Tippspiele während der WM:"Es ist alles ein entsetzlicher Schmerz"

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Am Boden - mit Aua: Der Schweizer Steve von Bergen scheidet verletzt aus. Wer auf die Schweiz tippte, bekam beim 2:5 gegen Frankreich keine Punkte.

(Foto: AFP)

Mindestens genauso wichtig wie der Ausgang der WM ist für viele der Endstand in der Tippspiel-Tabelle. Hier werden vermeintliche Experten zu Laien - und Ahnungslose zu Fußballverrückten. Erfahrungsberichte aus der SZ.de-Redaktion.

Weltmeister Spanien: raus. England: weg. Costa Rica: sicher im Achtelfinale. Wer hätte das gedacht? Und vor allem: Wer hat es auch getippt? Die WM ist schon ein paar Tage alt und in den Tipp-Tabellen zeichnen sich erste Trends ab. Mancher Favorit ist gescheitert, der ein oder andere Außenseiter überrascht. Und mancher spielt aus gutem Grund gar nicht erst mit. Erfahrungen aus der SZ.de-Redaktion.

Michael König, Politikredaktion:

Die Kollegin findet es "total witzig". Kein Wunder, sie steht in unserer internen Tippspiel-Bestenliste auf Platz eins. Meine Platzierung ist dreistellig, zumindest gefühlt. Ich dachte, ich hätte Ahnung von Fußball. Jedenfalls davon, was man in meiner Heimat für Fußball hält. Ich habe ein Buch über Arminia Bielefeld geschrieben. Zumindest mit Niederlagen sollte ich mich auskennen. Trotzdem bin ich schlecht. Klar, es geht noch schlechter: Hinter mir im Ranking liegt unser Auto-Experte und, siehe da, auch mancher Sport-Kollege. Aber wie lange noch?

Sollte ich nachlegen, meine Tipps anpassen? Statt der täglichen SZ-Lektüre lieber "Wettblogs studieren", wie es die Kollegin auf Platz eins macht? Es sollte mir egal sein, es ist nur ein Spiel. Aber es nervt, es macht mir die WM kaputt. Das Schöne am Fußball sind die Überraschungen, die Tore in letzter Minute, die Siege der Underdogs. Ich liebe das, normalerweise. Jetzt ertappe ich mich dabei, wie ich ein 0:0 ersehne, nur weil es mir in der Wertung nach vorne brächte. Manchmal schaffe ich es, den Gedanken zu verdrängen. Doch dann fragt garantiert jemand: "Wie hast du eigentlich getippt?" Und die böse Gedankenmaschine wird angeworfen. Bald ist die Vorrunde vorbei, dann steige ich eventuell aus. Trotze dem Gruppendruck, gratuliere der Kollegin. Es lebe der Fußball. Zur Hölle mit dem Tippspiel.

Jasmin Off, Videoredaktion:

Costa Rica hat mir den Schlaf und den Fußballverrückten den Verstand geraubt. Ich, weiblich, Tippspielerfahrung null, wurde mit dem Sieg der Mittelamerikaner gegen Uruguay urplötzlich in die Top Ten des Tippspiels katapultiert. Ich im WM-Fan-Olymp, "Ligafuchs", "Fußballtommy" und 4000 andere User hinter mir. Dabei hatte ich meine Kreuzchen für die Vorrunde so unbedarft gesetzt wie Kraken-Orakel Paul damals die Bälle durchs Aquarium kickte. Südkorea? Da war doch mal die WM. Die gewinnen. Nigeria gegen Iran? Nie im Zusammenhang mit Fußball gehört. Tipp: Unentschieden. Nach zwei Tagen lag ich mit dieser Taktik auf Platz 400 und die Sache war für mich erledigt. Dann kam Costa Rica (Costa Rica? Klingt sympathisch. Die gewinnen.).

Seitdem ist meine Euphorie riesig und meine Nacht kurz. Um kurz vor zwölf recherchiere ich die Stärken von Kamerun. Um halb zwei bete ich, dass Japan kein Tor mehr schießt. Um halb drei aktualisiere ich die Highscore-Liste der Tipp-Gemeinschaft. In den Wettblogs von wirklich Fußballverrückten hole ich mir Tipps für den nächsten Tipp - stelle mir allerdings die Frage, ob das wirklich clever ist. Denn: Glaubte man diesen Prognosen, waren die Chancen hoch, dass "die Spanier gegen Chile nicht nochmal verlieren" und "England gegen Uruguay dagegenhält". Jetzt lag ich zweimal daneben. Vielleicht sollte ich doch zurück zu meiner anfänglichen Unbedarftheit. Mein Tipp für den Weltmeister? Wie wärs mit der Schweiz? Da war ich schon immer gerne im Urlaub.

"Ich habe nie wieder an einem Tippspiel teilgenommen"

Jonas Beckenkamp, Sportredaktion:

Es ist alles ein entsetzlicher Schmerz. Die Tipprunde macht sich schon lustig über mich, den vermeintlichen Experten. "Da zeigt sich, dass Fachwissen nicht zwangsweise mit dem Beruf eines Sportjournalisten einhergeht", schrieb mein Tipp-Konkurrent "Knall-im-All" ins Forum. "Knall-im-All" ist ein Freund von mir, er hat so mäßig Ahnung von Fußball. Aus der Mannschaft Uruguays könnte er keinen Spieler nennen - trotzdem liegt er auf Platz vier, während ich im Graumausbereich hinterherkrebse. Ebenso vor mir: Schönwettertipper, Ratefüchse, jemand, der sich "Blindes Huhn" nennt, und meine Mitbewohnerin. Ich habe sie sehr gern, aber als sie an mir vorbeizog, obwohl sie bei einigen Partien wegen vergessener Tipps punktelos blieb, habe ich mich schon gefragt, was das soll.

Dass eine andere Bekannte ebenso schamlos reüssiert, macht die Sache nicht besser. Sie tippt manchmal unbedarften Schwachsinn wie Siege für Südkorea (weil sie da mal war) oder Griechenland (weil... weiß der Geier). Ihr Fußballinteresse ist überschaubar, doch ihr Instinkt gibt ihr Recht: Sie okkupiert hartnäckig Platz zwei und schreibt mir nach jedem richtigen Ergebnis Jubel-SMS mit Smileys ("Ja man, Costa Rica, die haben Spirit"), das macht mich fertig. Immerhin: Ein anderer Freund, der sich "Nulltoleranz" nennt, ist so desinteressiert, dass er nur sporadisch mittippt - Letzter kann ich also nicht mehr werden.

Hannah Beitzer, Politikredaktion:

Ich mache einen weiten Bogen um Tippspiele. Das hat mit dem Champions-League-Finale von 2012 zu tun. Sie erinnern sich? Bayern gegen Chelsea, das Elfmeterschießen, die Niederlage. Ich habe von Fußball wirklich keine Ahnung und der FC Bayern ist mir ebenso egal wie die Champions League an sich. Trotzdem habe ich das Finale mit lauter Bayernfans angeschaut. Die meisten Anwesenden hatten Lederhosen und Bayern-Trikots an und waren schon vor Anpfiff kaum ansprechbar. Sie haben mich allerdings noch gezwungen, beim Tippspiel mitzumachen.

Es war schon fast kein Ergebnis mehr übrig, gegen die Bayern tippen war natürlich strengstens verboten, also entschied ich mich für 1:1 nach Regelspielzeit. Schon während des Spiels kochten die Emotionen hoch, es flogen Bierflaschen vom Balkon, es wurde sich schreiend auf dem Boden gewälzt. Nach 90 Minuten stand es 1:1. Dann die Niederlage: Ungefähr die Hälfte der Anwesenden lag sich weinend in den Armen. Mit echten Tränen und so. Ich war mehr als irritiert. Die meisten Anwesenden kannte ich schon mein ganzes Leben, keinen davon hatte ich je weinen sehen. Der Gastgeber schob mir dann ziemlich still und leise die Tasse mit dem Wetteinsatz über den Tisch, ich habe den Inhalt auch ziemlich still und leise in meine Handtasche gekippt. Irgendwie fühlte ich mich schuldig und bin ganz, ganz schnell gegangen. Ich habe nie wieder an einem Tippspiel teilgenommen.

"Die Mafia hat ihren Aufnahmeritus mit Blut, wir haben das Tippspiel"

Christoph Behrens, Wissensredaktion:

Fußball und seine Protagonisten lassen mich eigentlich kalt. Ein Spiel im Fernsehen zu schauen, übt eine hypnotisierende Wirkung auf mich aus. Ich drifte ab, denke an irgendwas - nur nicht an Fußball. Doch alle zwei Jahre erfasst mich der Sog. Schuld daran sind ein bisschen die Turniere, die Fifa und Uefa abwechselnd veranstalten - aber hauptsächlich ist es meine Familie und ihre Besessenheit vom Tippen. In Zeiten von EM oder WM gibt es ein Tippspiel in der Großfamilie. Fünf Euro und schon ist man dabei. Alles wird penibel geplant. Wochen vor dem Turnier schickt mein Vater eine Excel-Tabelle herum, mit äußerst genauen Anweisungen zum Ausfüllen, die jeder ignoriert. Ist das Turnier im Gang, kommt mein Postfach nicht mehr zur Ruhe.

Mein Vater ist gerade im Urlaub, doch jeden Tag trudelt pünktlich zur selben Zeit ein Update mit der neuesten Excel-Tabelle ein. Wer ist einen Platz vorgerückt, wer hat keine Chance mehr auf den Sieg. Jetzt beginnt das Tippspiel, seinen Zauber zu entfalten, es offenbart seine höhere Funktion als sozialer Kitt in der Familie. Plötzlich schreiben entfernte Verwandte, an die man schon lange nicht mehr gedacht hat. Der sozialdemokratische Familienzweig im Westen duelliert sich mit dem konservativen im Süden ("Peters Angriff auf die Spitze endete als Rohrkrepierer"). Zugleich ist das WM-Tippen eine Art Aufnahmeritual für Neumitglieder. Wessen Name auf dem Verteiler steht, der gehört dazu. Die Mafia hat ihren Aufnahmeritus mit Blut und brennenden Karten; wir haben unser Tippspiel.

Christian Helten, jetzt.de:

Alkohol und WM-Tippspiele haben eine Sache gemeinsam: Sie machen Unattraktives attraktiv. Alkohol hübscht weniger küssenswert geratene Mitglieder des anderen Geschlechts oder langweilige Partys auf. WM-Tipprunden machen Spiele wie Kolumbien gegen Griechenland packend wie einen Hitchcock, weil man mitfiebern kann, wo es nicht viel mitzufiebern gibt. Das Problem: Wenn man es übertreibt, geht dieser wertvolle Effekt verloren. Ich bin bei der aktuellen WM Mitglied in drei Tipprunden auf drei verschiedenen Portalen.

Das heißt, ich muss alle Spiele drei Mal tippen. Aus Zeitmangel tue ich das nie direkt hintereinander und immer ein wenig in Eile. Wenn ich mein 3:0 für Kolumbien bei Tipprunde drei eintrage, habe ich schon vergessen, ob ich den Ausgang des Spiels in den Tipprunden eins und zwei nicht anders vorhergesagt habe. Wenn das Spiel im Fernsehen läuft, weiß ich also nicht, worauf ich hoffen soll: dass die Südamerikaner noch einen reinballern oder die Griechen noch den Anschlusstreffer machen. In dieser Unentschlossenheit gefangen kann ich gar nichts hoffen - und muss mir das Spiel schöntrinken.

"Seit ein paar Tagen nennt meine Freundin mich Nerd"

Dirk von Gehlen, Social Media:

In einer gewöhnlichen Bundesliga-Saison erkenne ich Fachkenntnis bei Fremden daran, ob sie zur gleichen von Kenntnis getriebenen Vereinssympathie in der Lage sind wie ich. Wer ebenfalls Fan des VfL Bochum ist, beweist auf diese Weise gesteigertes Expertentum. Da der VfL Bochum aufgrund merkwürdiger Vorkommnisse seit Jahren nicht mehr in der ersten Liga spielt, bin ich vor einer Weile dazu übergegangen, Fachkenntnis bei Fremden anhand ihrer Tipps zu ermitteln. Wir sprechen dann nicht mehr zuerst über Fan-Haltung, sondern über die Prognosen fürs Wochenende - und über deren Verbindung zum VfL.

Gleiches gelingt auch bei der WM hervorragend: Bei einer Knallerbegegnung wie Japan gegen Griechenland kann ich den Sachverstand meines Gegenüber zum Beispiel daran erkennen, wie er seine Prognose begründet. So spricht einiges dafür, auf einen griechischen Sieg zu setzen, spielt in der Nationalmannschaft Griechenlands doch die ehemalige Bochumer Stürmerlegende Theofanis Gekas. Etwas weniger einprägsam war der Auftritt von Takashi Inui beim VfL Bochum. Weniger kenntnisreiche VfL-Fans könnten also auf einen japanischen Sieg tippen. Allerdings steht Inui, inzwischen bei Eintracht Frankfurt, gar nicht im japanischen Kader, das sollte man hinzurechnen. Er ist aber immerhin Japaner, was den Tipp sinnvoller erscheinen lässt, als die völlig abwegige Prognose, in dieser Begegnung ein torloses Unentschieden zu tippen. Auf so eine Idee können wirklich nur völlige Fußball-Laien kommen.

Thierry Backes, München-Redaktion:

Dieser verfluchte Gervinho. Ist ja schon schlimm genug, dass die Ivorer nicht das 1:1 einfahren, das sie gegen Kolumbien eigentlich verdient gehabt hätten (und ich getippt habe). Aber muss Gervinho auch noch zu diesem späten Solo ansetzen und dieses völlig sinnlose Tor zum 1:2 erzielen? Vier Kollegen stehen in der Tipptabelle vor mir, alle vier haben das 1:2 getippt. Späte Tore machen schlechte Laune - und mich zum Klickvieh. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die minütlich auf ihr Handy starren, ich habe nicht mal Whatsapp. Aber seit ein paar Tagen nennt meine Freundin mich "Nerd".

Weil ich ab der 70. Minute ständig kontrollieren muss, wer was getippt hat und was passiert, wenn die eine oder die andere Mannschaft jetzt noch ein Tor schießt. Tippen macht schizophren, sagt meine Freundin. Und hat natürlich Recht. Oder finden Sie es normal, wenn man sich beim Stand von 3:0 für Deutschland Tore wünscht, egal für wen? Hauptsache, es bleibt nicht beim 3:0. Denn das haben alle anderen, nur ich nicht.

Thomas Harloff, Autoredaktion:

Draußen herrscht feinstes Grillwetter, doch das Match Kolumbien gegen die Elfenbeinküste fesselt mich an die Couch. Ich muss morgens um 8.30 Uhr im Büro sein, doch wegen Japan gegen Griechenland bleibe ich bis zwei Uhr wach. Diese Spiele könnten mir egal sein, aber ich sitze vor dem Fernseher, will wissen, wie es ausgeht. Denn ich habe getippt. Tippspiele bewahren uns davor, die Fußball-WM zu einseitig zu betrachten. Natürlich drücke ich Deutschland die Daumen, aber die DFB-Elf nimmt nur an maximal sieben der 64 Spiele teil.

Tippspiele helfen dabei, dass auch andere Teams betrachtet werden, die sonst vielleicht keine Aufmerksamkeit erhalten würden. Hätte ich ohne Tippspiel Mexiko gegen Kamerun angeschaut oder Uruguay gegen Costa Rica? Sicher nicht! Aber in beiden Spielen habe ich herzerfrischenden Fußball gesehen und mich gut unterhalten gefühlt. Geschenkt, dass ich mit meinen Tipps jeweils falsch gelegen habe.

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