Thomas Müller:Einsamer Surfer jenseits der Wellen

  • Thomas Müller hat keine gute WM gespielt: Der Stürmer, der sonst immer Wege findet, blieb ohne Tor.
  • Auch in der Champions League hatte er dem FC Bayern zuletzt kaum helfen können.
  • Es scheint, als erziele er in großen Spielen keine Wirkung mehr.

Von Benedikt Warmbrunn, Kasan

Die beste Szene von Thomas Müller bei dieser Weltmeisterschaft wird in keinem Rückblick gezeigt werden, sie wird in keiner Statistik geführt werden, und Müller wird darüber nicht traurig sein. Er hatte einige dieser typischen locker-flockigen Müller-Elemente in diese Szene eingestreut, einige dieser Elemente, die die deutsche Mannschaft ansonsten so vermisst hat in Russland. Er war aus der Versenkung aufgetaucht, ganz plötzlich, mit diesem ihm eigenen Sinn für die Tiefen und Untiefen des Raumes. Er hatte den Ball mit einer unkonventionellen Haltung gespielt, seinen Körper schlangenartig um sich selbst wickelnd. Kaum war er aufgetaucht, hatte er den Ball weitergeleitet, und schon war er wieder abgetaucht in eines dieser tiefen, dunklen Löcher des Raumes.

Den Ball hat Thomas Müller in dieser Szene in der Mitte der ersten Hälfte zu einem Gegenspieler weitergeleitet, er wollte das Spiel beschleunigen, wollte den Südkoreanern die Chance nehmen, schon wieder ein paar Sekunden verstreichen zu lassen. Als Fehlpass werden es die Bürokraten in der Statistikzentrale dennoch nicht werten, der Ball befand sich außerhalb des Spielfeldes, es gab Einwurf für Südkorea. Außerdem, darauf werden die Bürokraten verweisen, nahm Müller zu diesem Zeitpunkt offiziell nicht am Spiel teil. Die Versenkung, aus der er kam und in die er wieder hinabglitt, war die Ersatzbank.

Falls irgendwer einmal das Leben des Thomas Müller nacherzählen sollte (und niemand könnte das lesenswerter als Müller selbst), wird er viele Heldenkapitel einplanen müssen. Müller hat bis zum Alter von 28 Jahren sieben Mal die deutsche Meisterschaft gewonnen. Sollte er beim FC Bayern auch seine Karriere beenden, stehen die Chancen nicht schlecht, noch das Dutzend voll zu machen. Er hat die Champions League gewonnen. Er hat bei der WM 2010 den sog. goldenen Schuh als bester Torschütze gewonnen, dazu den Titel als bester junger Spieler. Er hat mit der Mannschaft den Titel bei der WM 2014 gewonnen, dazu den sog. silbernen Schuh als zweitbester Torschütze, unter seinen fünf Treffern war auch das wegweisende 1:0 im 7:1-Halbfinale gegen Brasilien. Zehn Tore hatte Müller bei seinen ersten beiden Weltmeisterschaften erzielt.

Dann folgte die WM 2018.

Kaum einem Spieler war am frühen Mittwochabend in Kasan die Enttäuschung über das frühe Ausscheiden so deutlich anzusehen wie Müller. Seine Augenbrauen hatte er so weit zusammengezogen, dass sie sich nach unten wölbten, dazu senkte er den Kopf, und so verschwanden seine Augen in den Tiefen des eigenen Gesichtes. Zu sehen waren nur die Tränen, die Müllers Wangen hinab flossen. Wie es ihm gehe, wurde Müller später unnötigerweise gefragt: "Schlecht."

In den langen Jahren des Hochs der deutschen Nationalmannschaft war Müller der Wellenreiter, der dann noch aus dem Hohlraum unter der Welle auftaucht, wenn alle anderen schon denken, dass sich dieser längst geschlossen hat. In Russland wirkte Müller wie ein Surfer, der auf seinem Brett liegt, stundenlang auf die Welle wartet und nicht merkt, dass er immer weiter weggetrieben wird vom Ufer.

Gegen Südkorea saß er das erste Mal überhaupt beim Anpfiff eines WM-Spiels auf der Bank; zuvor hatte er nur eine Partie verpasst, 2010 das Halbfinale gegen Spanien (0:1), wegen einer Sperre. Am Tag vor dem letzten Gruppenspiel hatte Joachim Löw diese Maßnahme sanft angedeutet, er hatte gesagt, dass Müller "zwei schlechte Spiele" gemacht habe, allerdings versehen mit dem Zusatz, dass Müller auch nach solchen noch positiv nach vorne blickt.

Aber allein dieser urbayerische Optimismus, dieser Blick des unverbesserlichen Humoristen auf eine in sich zusammenfallende Welt überzeugte auch den Bundestrainer nicht mehr. Er wechselte Müller erst in der 63. Minute ein.

"Alle im Verliererboot"

Müller hatte dann eine Szene im Strafraum, als er den Ball mit der Stirn über sich selbst hinweg weiterleitete, in hohem Bogen - am Tor vorbei. Ansonsten rauschten auch die letzten 37 Minuten und fünf Sekunden dieser WM an Müller vorbei, ohne dass er noch eine Chance sah, sich ins Turnier einzubringen. Er spielte 15 Pässe, 13 davon kamen an, aber keiner beschleunigte die Partie, keiner bereitete den Weg in die Gefahrenzone. "Ich habe kein Tor erzielt, was von allen immer gefordert wird", sagte Müller, "ich bin nicht in der Position, große Reden zu schwingen. Wir sitzen alle im Verliererboot, und da kann man jetzt nicht groß die Klappe aufreißen."

Thomas Müller nach dem WM-Aus 2018 gegen Südkorea

So sehen keine Sieger aus: Thomas Müller nach dem WM-Aus.

(Foto: Peter Schatz/imago/ActionPictures)

In den langen Jahren des Hochs der deutschen Nationalmannschaft ist Müller auch gefeiert worden als der Karl Valentin des deutschen Fußballs, als derjenige, der auch da noch einen locker-flockigen Spruch platziert, wo ihn keiner mehr erwartet. Er riss dabei auch gerne mal groß die Klappe auf, und jedes Mal amüsierte er alle. Doch so wie sich die eine oder andere Bequemlichkeit insgesamt ins deutsche Spiel geschlichen hat, so hat es sich Müller auch ein bisschen in seiner Valentinigkeit gemütlich gemacht. Er redet und schimpft und flucht und gestikuliert und reklamiert auf dem Feld, bestimmt sagt er auch der Lage ganz und gar nicht angemessene und dadurch umso lustigere Sätze. Ein bisschen scheint aber auch sein Gefühl für Raum und Zeit verloren gegangen zu sein.

Auf dem Höhepunkt des deutschen Fußballs, rund um den Champions-League-Titel des FC Bayern 2013 sowie den WM-Triumph 2014, war Müller international gefürchtet als einer, der mit seinem inneren Kompass Wege fand, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind. Auf diesen Kompass hat er sich lange verlassen, aber nun hat er ihn schon seit ein paar Jahren verloren. 2016 verschoss er im Halbfinale der Champions League gegen Atlético Madrid einen Elfmeter, der FC Bayern scheiterte.

Bei der EM 2016 erzielte er danach keinen Treffer, im Viertelfinale verschoss er im Elfmeterschießen gegen Italien seinen Elfmeter, ohne Folgen. Beim FC Bayern verzweifelte er unter Carlo Ancelotti, erst unter Jupp Heynckes gewann er wieder Vertrauen in seine Kräfte; am Ende der Saison hatte er in allen Wettbewerben 15 Tore erzielt. Doch in den engen Spielen, zum Beispiel im Halbfinale der Champions League gegen Real Madrid, ging er nur gewöhnliche Landkartenwege, und so blieb das auch bei der WM.

"Wir müssen das verarbeiten", hat Müller in Kasan gesagt, "wir müssen schauen, dass wir nicht zu viel Glas zerbrechen." Vielleicht wäre aber genau das keine schlechte Idee.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: