Terror in Paris:Die Stunden nach dem Knall

Zuschauer des Spiels Frankreich - Deutschland auf dem Spielfeld des Stade de France.

Nach Abpfiff strömten viele Zuschauer auf das Spielfeld im Stade de France.

(Foto: AFP)

In Minute 16 wird Frankreich gegen Deutschland ein belangloses Fußballspiel: Szenen aus dem Stadion, in dem eigentlich gehüpft werden sollte und das kurze Zeit später in tieftraurige Stille verfällt.

Von Claudio Catuogno

Am Ende des Abends, der mit einem Knall begann und bald in tieftraurige Stille umschlug, klebt da ein Spruch auf dem Fußboden des Regionalbahnhofs La Plaine - Stade de France. Es ist einer dieser Aufkleber, die man sich auf den Mantel pappt, wenn man etwas so Belangloses wie ein Fußballspiel mit ein bisschen Pathos aufladen will. "Qui ne saute pas n'est pas français", steht darauf, weiße Buchstaben auf blauem Grund. Die Trikotfarben der französischen Nationalmannschaft.

Wer nicht hüpft, ist kein Franzose.

Es geht auf halb zwei Uhr zu in der Nacht von Freitag auf Samstag, kein Franzose hüpft, kein Deutscher hüpft in La Plaine - Stade de France, es sagt auch fast keiner etwas, und wenn einer was sagt, dann im Flüsterton. Nur die routinierte Frauenstimme von der Bahngesellschaft gibt die neuesten Verkehrsnachrichten durch: Wegen eines unbeaufsichtigten Gepäckstücks an der Gare du Nord ist der Zugverkehr der Linie B bis auf Weiteres unterbrochen.

Vorläufige Bilanz: 129 Tote, 352 Verletzte

In den Smartphones der Leute, die hier still beieinander stehen, ist natürlich längst zu lesen, dass das unbeaufsichtigte Gepäckstück gerade das kleinste Problem ist in Paris. Die Stadtverwaltung hat alle Bewohner aufgerufen, Wohnungen und Hotels nicht zu verlassen. Aber man muss ja erst mal nach Hause kommen durch diese in Blaulicht und Sirenenlärm getauchte Stadt, um Wohnung oder Hotel nicht verlassen zu können. Ohne U-Bahn, fast ohne Nahverkehr - und die Taxifahrer, von denen jetzt viele ihre Fahrgäste gratis befördern, können auch nicht überall gleichzeitig sein.

Der Knall: Wie man inzwischen weiß, war das der Auftakt zum schlimmsten Terroranschlag, den Frankreich je erlebt hat. Diverse Anschlagsziele in der französischen Hauptstadt, 129 Tote, 352 Verletzte, 99 von ihnen in Lebensgefahr - das war die vorläufige Bilanz am späten Samstagabend. An der Rue Bichat, Ecke Rue Alibert hat sich am Samstag eine lange Schlange gebildet von Leuten, die ihr Blut spenden wollten für die Opfer - und es gehört zu den bizarren Details dieser Tragödie, dass sich auch in die Außenwand des Blutspende-Zentrums EFS sieben Einschusslöcher geschlagen haben. Genau gegenüber, in den Restaurants "Le Carillon" und "Le Petit Cambodge", sind am Freitagabend mindestens zwölf Menschen erschossen worden.

Der Knall: Während unten auf dem Rasen Deutschland gegen Frankreich dieses Freundschaftsspiel austrägt, während sich die Leute noch fragen, ob das wohl eine gute Idee ist vom Bundestrainer Joachim Löw, ausgerechnet heute eine Dreierkette auszuprobieren, hat schon dieser erste Schlag die Tribünen vibrieren lassen. Das war in der 16. Minute. Der nächste folgt wenige Minuten später, Patrice Evra hat gerade den Ball am Fuß, er blickt kurz irritiert auf, spielt weiter. Der dritte Knall ist dann etwas weiter entfernt - zu diesem Zeitpunkt hat sich die Ehrentribüne schon geleert, Staatspräsident François Hollande ist von der Ehrentribüne weggebracht worden und leitet bald darauf eine Krisensitzung.

An zwei Stadion-Eingängen explodieren Sprengsätze

Das Spiel geht weiter. Hubschraubergeknatter ist zu hören, Sirenen, während die Zuschauer längst eine furchteinflößende Stille ergriffen hat. Nach dem Abpfiff kommen dann sofort die Durchsagen: Wegen eines "äußeren Zwischenfalls" sei nur ein Teil der Ausgänge geöffnet. Aber raus sollen die Leute schon. Geordnet. Bloß keine Massenpanik. So ganz ist die aber auch nicht zu verhindern; Hunderte strömen wieder zurück auf den Rasen.

Es sind wohl diese Bilder, auf die die Terroristen abgezielt haben. Ein Fußballstadion, auf das die Welt blickt, der Weltmeister und der Gastgeber der Europameisterschaft 2016 - und auf dem Rasen: ein kleines Mädchen, das in Tränen ausbricht. Zuschauer, die fassungslos zusammenklappen. Andere halten sich in den Armen und weinen.

Oder stimmt das gar nicht? Hatten die Attentäter ganz andere Bilder gewollt? Was die Ermittler inzwischen wissen: An zwei Eingängen des Stadions sind Sprengsätze explodiert, ein dritter ging vor einem Fast-Food-Restaurant in der Nähe hoch. Für zwei der Explosionen waren definitiv Selbstmordattentäter verantwortlich; es waren die ersten Selbstmordanschläge überhaupt auf französischem Boden. Drei oder vier Menschen starben, da unterscheiden sich die Angaben je nach Quelle.

Einer der Angreifer soll ein Ticket gehabt haben

Aber wenn man sieht, was kurz darauf im Theater "Bataclan" vor sich ging - Geiselnahme, Massaker, Erstürmung, über 80 Tote alleine hier -, muss man wohl davon ausgehen, dass es kaum der ursprüngliche Plan gewesen sein kann, die Bomben draußen vor den Stadiontoren zu zünden. Das Wall Street Journal zitierte am Samstagabend einen Sicherheitsmann und einen Polizisten mit der übereinstimmenden Aussage, mindestens einer der Angreifer habe ein Ticket gehabt - und nur, weil sein Sprengstoffgürtel bei der Routinekontrolle am Eingang entdeckt worden sei, habe er ihn schon dort gezündet.

Kann man da jetzt ernsthaft über eine Dreierkette reden? Über die Rückkehr des Stürmers Mario Gomez? Über die Formkrise von Julian Draxler? Über den 19-jährigen Debütanten Leroy Sané? Über die 0:2-Niederlage durch Gegentore von Olivier Giroud und André-Pierre Gignac? Nein, kann man nicht, findet auch Joachim Löw: "Für mich treten der Sport, das Spiel und die Gegentore heute völlig in den Hintergrund", sagt er kurz nach dem Spiel der ARD.

Und dann ist die Nationalmannschaft plötzlich verschwunden.

Nicht nur die echte Nationalmannschaft. Auch der Twitter-Account "Die Mannschaft", der sonst jeden Schritt des DFB-Teams vermeldet und der bis zum Abpfiff Chance um Chance vor sich hin geblubbert hat - stumm. Über Stunden. Die Kanäle der Spieler in den diversen sozialen Netzwerken - offenbar abgeschaltet. Irgendwann wird die Meldung verbreitet, das Team sei in Kleinbussen in Sicherheit gebracht worden. Eine Finte, die wohl zeigt, als wie ernst man die Lage eingeschätzt hat.

Verbrüderung inmitten des Terrors

Tatsächlich blieben die Spieler und Betreuer die ganze Nacht im Kabinenbereich, etwa 70 Personen. Zusammen mit ihren Gastgebern - wir gehen erst, wenn die Deutschen auch gehen können, sollen die Franzosen sehr schnell entschieden haben. Und selbst wenn da ebenfalls Sicherheitserwägungen eine Rolle gespielt haben dürften: Es ist eine fast schon rührende Verbrüderung inmitten des Terrors. Am Morgen sind die Deutschen dann nach Frankfurt ausgeflogen worden, mit einer Sondermaschine.

Noch so eine Frage: Kann man jetzt am Dienstag in Hannover gegen Holland spielen? Tja. Die Franzosen werden antreten zu ihrem Freundschaftsspiel gegen England im Londoner Wembley-Stadion. Keinen Deut zurückweichen vor der Gewalt. Den Krieg gewinnen, egal wie das Spiel ausgeht - das ist jetzt auch ein Zeichen an die Nation.

Es ist gerade der Ausnahmezustand verhängt. Auch im Fußball.

Die deutsche Mannschaft habe während der sorgenvollen Stunden im Stade de France "viel nachgedacht, aber keine Antwort gefunden, die diese feigen Anschläge erklären kann", die Bilder würden alle noch lange begleiten. Das steht in einer Erklärung, die die Nationalmannschaft nach ihrer Nacht im Stade de France veröffentlicht.

"Weiß irgendjemand, was wir hier machen?"

Aber draußen vor dem Stadion müssen die Leute jetzt ja auch noch irgendwie nach Hause kommen. Eine Gruppe Kinder, dritte oder vierte Klasse, schiebt sich in Zweierreihen durch die Nacht, immer die Hand am Rucksack des Vordermanns, dass bloß keiner verloren geht, wenn schon die Ordnung verloren gegangen ist. Mitten auf einer abgesperrten Straße steht eine DFB-Delegation, ein Mann hält ein Schild in die Höhe: "Sponsoren". Normalerweise müssten die Ehrengäste des deutschen Verbands jetzt einfach nur in ihren Bus steigen, aber da kommen sie nicht hin. Einer fragt: "Weiß irgendjemand, was wir hier machen?"

In einer Metrostation in der Nähe singt eine Gruppe Fans spontan die Marseillaise. Und alle haben sie diese Fähnchen dabei. Blau-weiß-rot. Zusammengerollt.

Irgendwann kommt dann doch wieder ein Zug an der Station La Plaine - Stade de France. Im Schritttempo rollt er durch die Nacht. Etwas später schleichen die Menschen durch die leergeräumte Gare du Nord. Fast alle werden sich jetzt vor die Sondersendungen setzen, um erst mal zu rekonstruieren, was eigentlich genau passiert ist in ihrer Stadt, an diesem 13. November 2015.

Der Tag danach. An der Rue Bichat, Ecke Rue Alibert fahren am Samstagmittag um 13.20 Uhr zwei kleine Lastwagen vor, Männer in weißen Schutzanzügen steigen aus, entrollen Schläuche und waschen das getrocknete Blut vom Gehsteig, während auf der anderen Seite die Bewohner des Viertels zum Blutspenden anstehen.

An der Station La Plaine - Stade de France pappt der kleine Aufkleber immer noch auf dem Boden. "Wer nicht hüpft, ist kein Franzose." Wie deplatziert so ein Spruch plötzlich klingt. Und die Franzosen, die doch einfach nur zu einem belanglosen Fußballspiel wollten am Freitagabend in Paris - sie stellen sich jetzt wirklich die Frage, wer sie sind.

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