Tennisrowdy:Herzinfarktbälle für Oma Emilienne

Doch nicht lieb: Tennisprofi Nicolas Kiefer mutet den Zuschauern einiges zu bei seinem Einzug in die dritte Runde von Paris.

Von Milan Pavlovic

Nicolas Kiefer ist ein verantwortungsloses Enkelkind. Wohl wissend, dass seine 90 Jahre alte französische Großmutter in ihrer Heimat zusah, wie sich ihr Nachkomme bei den French Open schlug, inszenierte er auf dem Court Central eine Show, die nichts für Herz- oder Nervenschwache war.

"Sie hat mich schon wiedererkannt", sagte Kiefer ein wenig verlegen nach seinem vier Stunden dauernden Fünf-Satz-Kampf gegen den Franzosen Arnaud Clément, "aber sie hatte Schwierigkeiten, den lieben Nicolas zu sehen, als den sie mich sonst kennt."

"Zehn verschiedene Kiwis"

Bereits einen Atemzug später brach es jedoch wieder aus dem jahrelang allzu verhalten agierenden Profi heraus: "Das war geil. Solche Matches könnte ich öfter haben!"

Diese Zweitrundenpartie der French Open mit einer Achterbahnfahrt zu vergleichen, würde nicht genügen, immerhin erlebte man beim 4:6, 6:2, 6:2, 4:6, 6:4 nach Einschätzung des aufgedrehten Gewinners "zehn verschiedene Kiwis: den verrückten Kiefer und den braven, den vorsichtigen und den attackierenden".

Dementsprechend verlief das Spiel zwischen extremen Polen, "supergeil bis grottenschlecht", fand Kiefer selbst: "Es waren so viele Höhen und Tiefen dabei, dass es an Athen erinnert hat", jenes denkwürdige Doppel-Finale bei Olympia 2004, das Kiefer an der Seite von Rainer Schüttler nach eigenen Matchbällen noch verloren hatte.

Reanimation der Leblosen

Gegen Clément hatte Kiefer bei schwülen Nachmittagsbedingungen den ersten Satz leichtfertig verloren, die beiden nächsten Durchgänge dann aber mühelos und zum Teil mit gutem Tennis gewonnen.

Zu Beginn des vierten Satzes schien sich seine Konzentration jedoch zu verabschieden, möglicherweise suchte sie ein wenig Abkühlung im Schatten. Jedenfalls ließ die Körperspannung abrupt nach, und was übrig blieb von Kiefer, war ein Nervenbündel: unkoordiniert, aggressiv, auf Streit aus - mit dem Schiedsrichter, mit sich, mit dem Publikum, selbst Gegenstände (das Netz) und Pflanzen (Zierblumen am Platzrand) wurden nicht geschont.

Die vorher nahezu leblos wirkenden Zuschauer wurden durch Kiefers seltsame Emotionsausbrüche reanimiert, wütende Pfiffe begleiteten nun fast jede seiner Aktionen zwischen den Ballwechseln - wer wusste denn schon, dass sich da ein halber Franzose daneben benahm?

Herzinfarktbälle für Oma Emilienne

Clément allerdings war nicht sonderlich überrascht: "Einige Kollegen hatten mich schon gewarnt, dass er sich so benehmen könnte. Das Publikum zu provozieren erscheint mir nicht besonders konstruktiv. Aber vielleicht brauchte er das ja, um sich zu stimulieren."

Kiefer wollte nicht bestätigen, dass die Agitation zu seiner Taktik gehörte, er räumte aber ein: "Dass die Zuschauer am Rad drehten, hat mich noch geiler gemacht."

Anfängerfehler als Geschenk

Zunächst wirkte jedoch Kiefer abgelenkt und Clément animiert, der Franzose ging 5:0 in Führung - nur um mitzuerleben, wie Körper und Geist des Gegners plötzlich wieder zusammenkamen.

Spiel um Spiel holte Kiefer auf, bei 4:5 hatte er einen Spielball, beging aber mehrere Anfängerfehler, darunter einen "Herzinfarktball", mit dem er Clément den Satzausgleich schenkte. Danach verließ Kiefer kurz den Platz ("Ich musste Luft rauslassen, habe den Frust rausgebrüllt - am liebsten hätte ich die Toilette demoliert") und riss sich zusammen: Gleich im ersten Spiel des letzten Durchgangs sicherte er sich das entscheidende Break.

Es war danach immer noch kein gutes Spiel, aber weiterhin mitreißend. Clément analysierte schonungslos und zutreffend: "Ich bin extrem enttäuscht über mein Niveau - so wie ich gespielt habe, war es ein Wunder, dass ich den fünften Satz überhaupt erreicht habe. Kurioserweise habe ich da angefangen, besser zu spielen, aber Kiefer hat seinen Aufschlag gut verteidigt."

Nach dieser spektakulären Nummer nun am Samstag zur Partie gegen den Russen Igor Andrejew wieder auf einen Nebenplatz zurückzukehren, "ist einerseits nicht leicht", findet Kiefer, "andererseits aber ganz gut, denn auf einem kleinen Platz kann ich mich nie zu weit zurückfallen lassen - das hilft mir dabei, aggressiv zu bleiben".

Angesichts des vorangegangenen Auftritts ist das eine heftige Drohung, die Nicolas Kiefer überdenken sollte. Schließlich soll Oma Emilienne aus ihrem 200 Kilometer entfernten Haus noch zum Turnier nach Paris kommen, und Kiefer weiß: "Zu oft kann ich ihr solche Spiele nicht zumuten. Sie hat sich schon ein bisschen müde angehört."

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