Plötzlich wurde auf der Leinwand geknutscht, und das schien wie ein letzter Versuch der Veranstalter zu sein, eine stimmungsaufhellende Botschaft auf den Center Court zu schicken. Dort, unterhalb des riesigen Bildschirms, verzweifelte Angelique Kerber an sich, 2:6, 0:3 lag die beste deutsche Tennisspielerin zurück, am Donnerstagabend gegen die Französin Kristina Mladenovic.
Es war klar, dass Kerber ein Erweckungserlebnis brauchte, so kam jene Kiss Cam gerade recht, die beim Porsche Grand Prix in Stuttgart sporadisch zum Einsatz kommt. Zuschauerpaare wurden eingeblendet, es wurde gekichert. Neue Zuversicht wurde tatsächlich auf Kerber übertragen, die ausglich. Doch am Ende verlor sie den Satz 5:7 und damit als Siegerin von 2015 und 2016 gleich ihr erstes Match. Die Kiss Cam tauchte nicht mehr auf.
Kerber, so viel steht fest, muss sich ihr Erweckungserlebnis selbst organisieren. Die vergangene Saison verlief märchenhaft, ihre ersten zwei Grand-Slam-Siege, Nummer eins der Welt, Sportlerin des Jahres, "Ker-Boom!" in der Presse. Nun, Ende April 2017, sagt Kerber, dass sie ein paar Tage freinehme. Dann gehe sie mit ihrem Team einiges durch. Klar, Krise ist ein schweres Wort, wenn man bedenkt, dass sie seit Januar 572 000 Dollar verdient hat. Klar ist aber auch: Kerber steckt in der schwersten Phase seit ihrem Aufstieg zur weltbesten Spielerin im letzten Herbst. Es ist ihr Auftreten, das Bände spricht.
Bloß nicht verlieren - genau das strahlt Kerber aus
Das Gravierende ist nicht ihre neunte Saisonniederlage, die sich erklären lässt. Die Leistungsdichte ist hoch, Mladenovic oder die Ukrainerin Elina Svitolina, gegen die Kerber am vergangenen Fed-Cup-Wochenende zum vierten Mal verlor, strotzen vor Selbstvertrauen. Während diese zulegten, hat Kerber an Souveränität verloren, so kippten die Vorteile. Das ist Tennis.
Erstaunlich ist aber, wie rasch aus der 2016 so verblüffend zuversichtlichen Kerber eine 2017 rasch entmutigte Kerber wurde, die oft auftritt wie vor ihrem Durchbruch: blockiert, ängstlich. Die Kraft der Autosuggestion, an Titel zu glauben, scheint sich eine Auszeit zu nehmen, dafür hat die Kraft der selbsterfüllenden Prophezeiung die Oberhand gewonnen. Bloß nicht verlieren, das strahlt Kerber aus, auch rhetorisch: nur nichts Falsches sagen.
Während sie sich 2016 quasi selbst von Erfolg zu Erfolg coachte, weil sie wirklich glaubte, "nicht mehr das Mädchen" zu sein und es bei großen Turnieren "knallen" lassen zu können, einfühlsam geführt von Trainer Torben Beltz, belastet sie nun unübersehbar die Bringschuld. Demnächst ist sie ja vermutlich wieder die Nummer eins der Welt, die schwangere Serena Williams pausiert jetzt.
Wie kommt Kerber mit der Rolle als Weltbeste klar?
Zwar gibt es Personen wie Bundestrainerin Barbara Rittner, die versuchen, Druck von ihr zu nehmen. Aber je öfter gesagt wird, sie müsse lockerer werden, sie könne nicht alles gewinnen, desto mehr fängt Kerber offenbar an, neuen Druck zu empfinden. Sie verteidigt sich ja dann, sagt, nein, nein, sie komme mit Druck klar, und ja, ja, sie habe wirklich Spaß. Vielleicht sollte Kerber auch mal jenen Frust rauslassen, den ihre Tränen verraten. Es gibt ja im Leben wenig Verkrampfenderes als beweisen zu müssen, dass man Spaß hat.
Die große Frage, die Kerber jedenfalls öffentlich noch nicht an sich herangelassen hat, ist, inwieweit sie wirklich mit der Rolle als Weltbeste klarkommt. In einem englischsprachigen Artikel wurde jüngst ihre angeblich überbordende Selbstdarstellung in den sozialen Medien angeprangert, das sei gar nicht Kerbers Naturell.
Vieles mochte sich widerlegen lassen, viele Posts sind eben Teil des täglichen Geschäfts, und doch ist Kritik auf diesem Niveau neu für Kerber, die intern keineswegs dünnhäutig, sondern vielmehr sehr bestimmend sein soll. Schon länger kursieren Stimmen, die besagen, dass etwa Coach Beltz nichts mehr öffentlich sagen solle, und zumindest fällt auf, dass er tatsächlich, anders als 2016, nicht mehr für Anfragen verfügbar ist. Kerber, heißt es, halte die Zügel fest in der Hand, enger als in ihrem Märchenjahr 2016. Vielleicht steckt dahinter die Furcht, das zu verlieren, was sie so weit brachte.
"Wir werden sehen, was in den nächsten Wochen passiert", sagte Kerber noch - das klang so, als sei sie selbst gespannt, wie sie jetzt diese Phase meistert.
