Tennis:Kerber schleppt sich nach Singapur

Tennis: Erschöpft nach einer langen und strapaziösen Saison: die Weltranglisten-Erste Angelique Kerber

Erschöpft nach einer langen und strapaziösen Saison: die Weltranglisten-Erste Angelique Kerber

(Foto: AP)

Nach einem kräftezehrenden Jahr reist Angelique Kerber als weltbeste Spielerin zum WTA-Finale - an den Ort einer ihrer schlimmsten Niederlagen.

Von Philipp Schneider

Natürlich ist es ratsam, sich jetzt noch einmal das alte Video anzuschauen, zum Glück kommt im Internet nichts weg. Erst recht nicht eine seltene Szene wie diese, eine derart verunglückte Vorhand von Angelique Kerber: drei Hand breit segelt der Ball unterhalb der Kante ins Netz.

Singapur, der vorletzte Oktobertag 2015. Es läuft das Abschlussturnier der acht erfolgreichsten Tennisspielerinnen des Jahres. Einen Satz muss Angelique Kerber in ihrem letzten Gruppenspiel gegen Lucie Safarova gewinnen, um sich für das Halbfinale der besten Vier zu qualifizieren. Einen Satz nur. Nicht das ganze Match. Den ersten Durchgang hat die Tschechin bereits gewonnen, jetzt setzt sie eine Rückhand mit guter Länge an die Grundlinie, doch Kerber zieht ihre Vorhand nur halbherzig durch. Drei Hand breit unter das Netz. Das entscheidende Break. Das Video zeigt noch, wie Kerber ihren Schläger fast zu Boden schmeißt, wie sie kurz darauf ihren Blick ins Publikum richtet, hinauf zu Trainer Torben Beltz, und wie sie nun zu klagen beginnt: "Ich schaffe das nicht. Das ist alles scheiße hier. Ich kann nicht mehr."

Es lohnt, das alte Video noch einmal rauszukramen. Weil sonst gar nicht begreiflich wird, wie kolossal sich Kerbers Welt seitdem gewandelt hat. An diesem Sonntag wird die Deutsche zurückkehren nach Singapur, aber sie wird nicht länger anreisen als eine Spielerin, die der Welt beweisen müsste, dass sie es ins Halbfinale der besten Vier schaffen kann. Kerber ist die Weltbeste. Im Tennis beweist das die Weltrangliste. Es bezweifelt allerdings auch so kaum noch jemand.

"Bisher ist es ohne Frage die beste Saison meiner Karriere, mit so vielen Emotionen und Erinnerungen, die ich niemals vergessen werde", sagte Kerber in Singapur der dpa. "Mein Ziel ist es, für das WTA-Finale die letzten Kräfte zu mobilisieren." Die letzten Kräfte? Ja, Kerber kann wieder nicht mehr. Der Oberschenkel zwickt, die Schulter auch, sie ist müde. Aber diesmal ist das alles irgendwie egal.

Am Tag ihrer Niederlage gegen Lucie Safarova ist etwas zerbrochen in Angelique Kerber. Es zerbarst etwas in tausend Teile, die Kerber danach gänzlich neu zusammenfügen musste. Nein, durfte. Sie begriff im vergleichsweise hohen Tennisspielerinnenalter von 27 Jahren, dass sie nicht gegen die Tschechin Safarova verloren hatte, sondern gegen die Kielerin Kerber. Oft hat sie dieses Match selbst als Wendepunkt bezeichnet. Kurz nach Weihnachten gelobte Kerber, bei den Grand-Slam-Turnieren erfolgreicher spielen zu wollen. Sie sei kein braves Mädchen mehr. "Ich denke, ich bin bereit, etwas Großes zu gewinnen", sagte sie damals im SZ-Interview und kündigte an, bei den Majors werde es "endlich krachen".

Keiner Spielerin gewann 2016 mehr Matches als Kerber

Dass es gleich beim ersten Grand-Slam-Turnier krachte, im Januar bei den Australian Open, konnte Kerber kaum ahnen. Ganz sicher auch nicht, dass es beim vierten noch einmal krachen würde, sie also auch noch die US Open gewann, nachdem sie in Wimbledon erst im Finale gegen Serena Williams verloren hatte und mit Silber dekoriert von den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro abgereist war. Es gibt keine Spielerin, die in diesem Jahr mehr Matches gewann als Kerber - 59:17 lautet ihre Bilanz. Entsprechend schleppt sich die inzwischen 28-Jährige leicht entkräftet über die Zielgerade in Singapur, wo sie am Freitag zur besten WTA-Spielerin des Jahres gewählt wurde.

1. der Rangliste

Auf diesen Positionen der Tennis-Weltrangliste schloss Angelique Kerber seit 2006 jeweils die Saison ab.

2006 214.

2007 84.

2008 108.

2009 106.

2010 47.

2011 32.

2012 5.

2013 9.

2014 10.

2015 10.

2016 1.

Zudem wurde sie in eine Gruppe gelost, in der sie ab Sonntag (13.30 Uhr MESZ) zunächst gegen die Slowakin Dominika Cibulkova, später dann gegen die Rumänin Simona Halep und die Amerikanerin Madison Keys antreten muss. Sollte Kerber mindestens Zweite werden, trifft sie im Halbfinale auf Titelverteidigerin Agnieszka Radwanska aus Polen, French-Open-Siegerin Garbiñe Muguruza aus Spanien, die Tschechin Karolina Pliskova und diei Russin Swetlana Kusnezowa.

Serena Williams fehlt in Singapur

Zum vierten Mal tritt Kerber beim Saisonfinale an, über die Gruppenphase ist sie nie hinausgekommen. Besser als in diesem Jahr standen ihre Chancen auf den Titelgewinn allerdings auch noch nie, zumal Serena Williams, ihre größte Konkurrentin, wegen Schulterproblemen fehlen wird. So haben das wohl auch die Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF bewertet, die erstmals alle Matches von Kerber live übertragen werden.

Der Druck auf sie sei nach Williams' Absage "ein bisschen weniger geworden, ich kann es ein bisschen mehr genießen", hat Kerber kürzlich erzählt. Zumal seitdem feststeht, dass sie Silvester in jedem Fall als Weltranglistenerste erleben wird.

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