Tennis:Versuchung im weißen Revier

Wimbledon rätselt, warum so viele Spieler früh aufgeben. Ist das frevelhaft - oder angesichts des Preisgelds nachvollziehbar?

Von Barbara Klimke, London

Das Wimbledon-Wetter ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Seit drei Tagen scheint die Sonne über den berühmten 18 Rasenplätzen der Insel, von einer winzigen Regenunterbrechung abgesehen. Damit kommt kein Tennisspieler mehr in den Genuss einer unvorhergesehenen, aber hoch willkommenen Teepause, die in der langen Turniergeschichte schon so manchen wackeren Akteur gerettet hat.

Beispielsweise den Pfarrer John Hartley, den Champion des Jahres 1879. Der Pastor trat bei den dritten Wimbledon-Meisterschaften im Süden Londons an, aber weil er nicht damit rechnete, im Wettbewerb weit zu kommen, hatte er keinen Ersatzpfarrer für die Sonntagpredigt in seiner Kirche in Yorkshire bestellt. Also fuhr er am Samstag gen Norden, ratterte am Montagfrüh mit der Eisenbahn zurück und stand gerade rechtzeitig wieder auf dem Platz, als sein nächstes Match begann. Jedoch war er so erschöpft, dass er fast verloren hätte. "Glücklicherweise fing es zu regnen an", notierte er, "wir unterbrachen das Spiel, nahmen den Tee ein, und derart erfrischt beendete ich das Spiel."

Die Geschichte ist nicht nur deshalb interessant, weil Wimbledon ein Jubiläum feiert: 140 Jahre liegt das erste Turnier zurück, und aus solchen Anlässen werden gern alte Kamellen aufgewärmt. Es haben sich in den vergangenen Tagen auch Vorfälle gehäuft, die die Briten argwöhnen lassen, dass es manchem heutigen Profi möglicherweise an der Ausdauer, der Beharrlichkeit und dem Durchhaltewillen des beherzten Pastors John Hartley fehlt.

Denn acht Tennisspieler, Männer wie Frauen, haben allein in den ersten beiden Turniertagen ihre Auftaktmatches nicht durchgestanden. Sie brachen ihre Partien mittendrin zum Erstaunen des Gegners einfach ab. Sie griffen sich an die Hüfte, Schulter oder Wade, riefen den Physiotherapeuten, ließen sich eine Weile behandeln, packten dann mit Bedauern die Schlägertasche und humpelten von dannen. Bei manchem Akteur schien die Aufgabe sogar aus heiterem Himmel zu kommen. "Abzocke auf dem Centre Court", empörte sich deshalb die Daily Mail. Und auch die seriösere Times witterte eine "Farce".

Von "Abzocke" ist die Rede, und auch die seriöse "Times" wittert "eine Farce"

Vor allem den Zuschauern auf Wimbledons Centre Court, wo schon der billigste Sitzplatz umgerechnet 62 Euro kostet, wurde am Montag ein seltenes Schauspiel geboten: Am Nachmittag sollte zunächst Novak Djokovic, der Sieger von 2015, 2014 und 2011, gegen den Slowaken Martin Klizan spielen. Klizan betrat den Rasen mit bandagiertem Oberschenkel, hielt 40 Minuten durch bis zum 3:6 und 0:2, hob entschuldigend die Arme und gab dann auf. Danach war die Partie des siebenmaligen Wimbledon-Siegers Roger Federer gegen den Ukrainer Alexander Dolgopolow angesetzt. Doch Dolgopolow hielt kaum länger aus. Nach 43 Minuten und 3:6, 0:3 aus seiner Sicht war die Partie vorbei.

Day Two: The Championships - Wimbledon 2017

Elegante Rückhand, aber im vierten Satz war dann für den Spanier Feliciano López Schluss - der Körper muckte. Als Trost gab es 35 000 englische Pfund.

(Foto: Julian Finney/Getty)

Federer gelangte damit ohne große Anstrengung eine Runde weiter, aber die Sache war ihm peinlich. "Es tut mir leid für das Publikum", sagte er später: "Die Leute kommen ja, um gutes Tennis, ordentliches Tennis zu sehen." Beim Herausgehen aus der Arena lief ihm der Vorsitzende des altehrwürdigen All England Clubs, Philip Brook, über den Weg. "Ihr Jungs müsstet eigentlich noch anderthalb Sätze spielen", bemerkte Brook. "Ja, sehr unglücklich", bestätigte Federer und schlug mit trockenem Schweizer Humor eine Notlösung vor: "Ich könnte ja losgehen und schauen, ob ich Novak noch irgendwo auftreiben kann."

Als Konsequenz aus den Matchabbrüchen rät Federer den Grand-Slam-Turniere, ihre Regel zu überarbeiten. "Kein Spieler sollte auf den Platz gehen, wenn er weiß, dass er das Match nicht beenden kann", führte er aus. "Glaubt ein Spieler wirklich, dass er das Match übersteht? Dann sollte er natürlich antreten. Andernfalls sollte er seinen Platz einem anderen überlassen."

Allerdings ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass nicht die Moral, sondern der Kontostand diese Frage entscheidet. Denn Wimbledon zahlt jedem Spieler 35 000 Pfund (fast 40 000 Euro) schon in der ersten Runde, ob er gewinnt oder verliert - großzügiger ist weltweit kein anderes Turnier, in Paris waren es im Juni zum Beispiel 35 000 Euro. Und das, so mutmaßen die Briten nun, kann eine verlockende Aussicht sein, auch verletzt aufs Feld zu humpeln.

Tennis: Auch eine Fußreflexzonen-Massage hilft Martin Klizan nicht: Der Slowake gibt im zweiten Satz auf.

Auch eine Fußreflexzonen-Massage hilft Martin Klizan nicht: Der Slowake gibt im zweiten Satz auf.

(Foto: Alastair Grant/AP)

Kein Spieler hat zugegeben, dass es die Erstrundenprämie war, die ihn trotz Schmerzen zum Racket greifen ließ. Auch der Serbe Janko Tipsarevic nicht, der wegen einer Oberschenkelverletzung nur 15 Minuten mit dem Amerikaner Jared Donaldson mithielt, ehe er aufgab - und 2333 Pfund pro Minute verdiente, wie die Daily Mail errechnete. Allerdings wurde er mit folgender Aussage zitiert: Es gebe eine Menge Spieler, die wenig verdienten, sich durch das Qualifikationsturnier schlügen und dann die Chance auf einen ordentlichen Lohn hätten. Wer könnte ihnen das verdenken?

Federers Vorschlag wäre, die Grand-Slam-Turniere sollten eine neue Regel der Männer-Tour übernehmen: Dort kann ein Verletzter sich noch kurz vor dem Aufschlag abmelden und erhält trotzdem die Erstrundenprämie. Sein Platz im Hauptfeld wird dann einem Qualifikanten angeboten. Vielleicht ist das ein Modell für künftige Turniere. Beim ersten Durchgang 1877 wurde übrigens ein Preis im Wert von zwölf Guineen, kleinen Goldmünzen, ausgezahlt. Von einer Erstrundenprämie war zur Zeit des wackeren Reverend John Hartley noch nichts bekannt. Die Zugfahrt hat sich auch so ausgezahlt.

Und damit zum Wetter: Am Donnerstag ist endlich wieder Regen angesagt.

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