Tennis:Rücktritt der Socken

Glückstränen und Eulenspiegel-Kappen, Comebacker und eine Schlägerei: Das Turnier entpuppt sich als wilde, anarchistische Veranstaltung, bei der neue Helden mit ganz alten für einzigartige Momente sorgen.

Von Holger Gertz

Juan Martín del Potro hatte einen knochenharten Gegner in seinem Finale, Andy Murray aus Schottland. Er hatte aber auch eine Verbündete, in der entscheidenden Phase des vierten Satzes, bei eigenem Aufschlag. 5:4, der fünfte Durchgang war ganz nah. Eine schweißtreibende Sache, weshalb dem gewaltigen Mann aus Argentinien nach jedem Ballwechsel das Handtuch gereicht werden musste, von seiner Verbündeten im dunkelgrünen Oberteil zur beigen Hose. Die Ballmädchen kümmern sich nicht nur um die Bälle, das Bereithalten des Handtuchs ist genauso wichtig. Allerdings ist Juan Martín del Potro ein Spieler, der den Kampf zelebriert. Der Tennisplatz als Bühne. Und das Ballmädchen wurde von der Statistin zur Nebendarstellerin, sie musste dem Meister den weißen Lappen hierhin hinterhertragen und dorthin. Zum Ritual del Potros gehört es, versunken an der Grundlinie entlangzuschleichen und den gerade beendeten Ballwechsel zu rekapitulieren. Das Mädchen folgte ihm, hierhin und dorthin. Jederzeit bereit, ihm das Handtuch zu übergeben. Das Handtuch, welches del Potro dann erst mal ein paar Meter mit sich rumschleppte, bevor er es von sich warf, wie ein Dichter das Schmierpapier. Das Mädchen fing es auf.

Einmal wurde der Ablauf geändert, del Potro empfing das Handtuch, warf es sich über den Kopf wie eine Büßerkappe und machte sich auf seine kontemplative Wanderschaft. Das Mädchen folgte ihm, bis die Buße abgegolten war. Er gab ihr das Tuch, sie lief damit in ihre Ecke. Dann verlor del Potro seinen Aufschlag und das Spiel.

Tennis also im Olympic Tennis Centre draußen in Barra. Ein Erlebnis, bei dem einem Details auffielen, die sonst untergehen. Ein Erlebnis, weil das Neue mit dem Alten in Berührung gebracht wurde. Das Neue: sehr viele Menschen im Stadion, die sonst eher kein Tennis schauen.

Man merkte das daran, dass die Befehle aus dem Lautsprecher, endlich Ruhe zu geben, konsequent ignoriert wurden. Dort buhten sie, da pfiffen sie, hier fiel einem geräuschvoll der Bierbecher auf die Steinstufen. "Es war eine spezielle Atmosphäre. Die Fans rufen deinen Namen, sie singen. Ich habe sowas nie zuvor erlebt" sagte del Potro, er will auch gehört haben, dass sogar die Brasilianer für ihn geschrien haben, was allerdings eine akustische Täuschung gewesen sein muss.

Die Brasilianer buhten ihn lange aus, in der zweiten Runde gab es sogar eine wahrhaftige Schlägerei zwischen einem Brasilianer und einem Argentinier, und erst als die Gauchos im Finale in großer Zahl im Stadion erschienen und es mit Transparenten und Fahnen zu einem hellblau-weißen Tempel umgestalteten, herrschte halbwegs ein Gleichgewicht der Kräfte.

Mit dem Neuen hatte am Tag vorher auch die Weltranglistenzweite Angelique Kerber Bekanntschaft gemacht, in Gestalt ihrer Gegnerin Monica Puig aus Puerto Rico, die vom Publikum zur Herzensfrau erwählt worden war. Monica Puig empfing von den Rängen einige Heiratsanträge, außerdem entschlossen vorgebrachte Aufforderungen wie "Yes, you can", bevorzugt in Englisch. Was im Falle Puig die richtige Ansprache war, sie lebt seit Langem in Amerika. Und obwohl sie inzwischen, als erste Gold-Gewinnerin für Puerto Rico, eine Nationalheldin ist, war ein gewisses Fremdeln unübersehbar, als die Hymne ihrer Heimat gespielt wurde, La Borinqueña heißt sie. "Mein Vater hat mir am Morgen noch eine Mail mit dem Text geschickt, aber ich hatte nicht genug Zeit, ihn mir einzuprägen", sagte Monica Puig. "Wenn ich nicht so sehr hätte weinen müssen, hätte ich aber besser gesungen."

Es war ein Rausch aus Emotionen, Klängen und dem Glück des Augenblicks, dem Angelique Kerber standhalten musste. Es ist ihr im aufgeladenen Finale nicht gelungen, nachdem sie vorher ein souveränes Turnier hingelegt hatte, ins Endspiel ohne Satzverlust. "Sie hat das Match ihres Lebens gespielt", sagte Kerber und redete nicht groß drumherum, dass sie selbst kein besonders überragendes Spiel zustande gebracht hatte. Im zweiten Satz war sie mit sich selbst in einen Dialog getreten, dessen Inhalt mitbekommen konnte, wer in der Nähe saß, Kerber hatte sich kein geräuschdämpfendes Handtuch um den Kopf gelegt. "Was soll ich machen?", war die Frage, auf die sie keine Antwort fand. Aber sie suchte auch nicht nach Ausreden. Am Ende des ersten Satzes hatte sie sich behandeln lassen müssen. "Da war etwas hinten am Rücken, Gesäßmuskel. Aber das soll jetzt nicht wie eine Entschuldigung klingen: dass ich wegen der Verletzung verloren hätte." Nur Silber. Nur Silber? Es gibt so Tage, da steht der Mond nicht gut.

Das Alte übrigens waren die Spieler selbst. Del Potro zum Beispiel, eigentlich schon Invalide gewesen nach drei Operationen am Handgelenk, links. Venus Williams, 36, war auch noch mal da, sie gewann Silber im Mixed an der Seite von Rajeev Ram. Es waren ihre fünften Olympischen Spiele, 2000 in Sydney schon hatte sie zweimal Gold geholt, in Einzel und Doppel.

Spieler wie Williams haben den Vorteil, dass sie dem Neuen und Fremden begegnen können, ohne befangen sein zu müssen. Wer so lange im Geschäft ist, ist eine Ikone, auch die Buhenden und Pfeifenden und Singenden und Polarisierenden von Rio begrüßten die Veteranen aus aller Welt wie alte Freunde. Martina Hingis, 35, gewann Silber im Doppel mit Timea Bacsinszky, im Halbfinale gegen die Tschechinnen Lucie Hradecka und Andrea Hlavackova lagen die beiden zurück, hatten Matchbälle gegen sich - Rio war ein Festspielort für Comebacks und Comebacker. Den zweiten Matchball wehrte Hingis ab, indem sie ihre Gegnerin Hlavackova abschoss, voll ins Gesicht, aber natürlich unabsichtlich.

Alle Tennissieger bei olympischen Spielen

1988: Miloslav Mecir (Männer), Steffi Graf (Frauen)

1992: Marc Rosset, Jennifer Capriati

1996: Andre Agassi, Lindsay Davenport

2000: Jewgeni Kafelnikow, Venus Williams

2004: Nicolas Massu, Justine Henin

2008: Rafael Nadal, Jelena Dementiewa

2012: Andy Murray, Serena Williams

2016: Andy Murray, Monica Puig

Das passte ins Panorama eines wilden, anarchistischen Turniers, einer Begegnung von neuen Helden mit ganz alten. Es wurde gebrüllt (neben dem Platz) und geweint (auf dem Platz), im Männerfinale kamen kurz vor Schluss Soldaten und führten einen kreischenden Argentinier ab. "He was wearing a jester's hat, and grinning like an idiot", schrieb der strenge Tennisreporter vom Guardian. Ein Turnier, ein bisschen wie der Karneval in Rio. Es wurden merkwürdige Kostümierungen angelegt, Eulenspiegel-Kappen neben dem Platz und Stars and Stripes-Strümpfe auf dem Platz, getragen von der Mixed-Siegerin Bethanie Mattek-Sands. Der Partner der Frau mit den auffälligen Socken heißt - believe it or not - Jack Sock, beide natürlich aus den USA, wo man Reliquien ehrt und schätzt.

Bethanie Mattek-Sands wird die Strümpfe, gemeinsam mit der Goldmedaille, in einem Rahmen unterbringen, sagt sie. Sie wird sie nicht mehr anziehen: "Diese Strümpfe haben gerade ihren Rücktritt erklärt."

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