Tennis:Prächtiger Ritter

Andy Murray spielt pünktlich zu Beginn der US Open in New York sein bislang wohl bestes Tennis, er überzeugt mit erstaunlicher Konstanz, Fitness und beachtlichem Selbstvertrauen - dank einer Wandlung zum richtigen Zeitpunkt.

Von Jürgen Schmieder, New York

Es gibt diesen Moment während einer Tennispartie, da wissen beide Spieler, dass es vorbei ist. Andy Murray sieht dann aus, als würden ihn schlimme Rückenschmerzen plagen, er guckt auch sehr grimmig. Murray ist sauer auf Gegner, Schiedsrichter und auch auf sich selbst. Aber dann atmet er ein und blickt nach vorne. Das ist der Augenblick, in dem klar ist: Es ist vorbei, dieser wütende Typ wird dieses Spiel gewinnen.

Das war beim Wimbledon-Finale so und auch beim Endspiel der Olympischen Spiele. Wahrscheinlich wird es auch bei den heute startenden US Open der Fall sein. Gewiss, Novak Djokovic ist der Favorit, aber Murray ist seit drei Monaten der beste Tennisspieler auf diesem Planeten. Er ist der Favorit auf Augenhöhe, ohne Hexenschuss-Gang blickt er derzeit sogar ein bisschen auf Djokovic hinab - nicht wenige Beobachter fragen sich: Was ist da passiert?

Murray, 29, ist ein Viertel der so genannten Big Four, die anderen drei Mitglieder sind Djokovic, Roger Federer und Rafael Nadal. Diese Gruppe dominiert das Männertennis seit elf Jahren und hat in diesem Zeitraum gemeinsam 39 von 43 Grand-Slam-Turnieren gewonnen. Die Aufnahme von Murray in diesen erlesenen Zirkel ist sicherlich nicht falsch, nur: Von den Titeln der Big Four gewann Murray gerade mal drei, daran gemessen ist er kein Viertel, sondern eher 7,69 Prozent der großen Vier. Und er hält noch immer den zweifelhaften Rekord, fünf Grand-Slam-Finals am selben Ort (Melbourne) verloren zu haben.

Natürlich kann Murray nichts dafür, dass seine Eltern Judith und William sich ausgerechnet im Sommer 1986 besonders lieb hatten, im gleichen Zeitraum wie die Eltern des eine Woche nach ihm geborenen Djokovic. Murray ist ein grandioser Tennisspieler, zweifelsohne, doch er traf jahrelang immer wieder auf einen, der noch ein bisschen besser war. Schlechtes Timing eben. Wer ihm wohlgesonnen war, der wünschte ihm in diesen Partien, dass er einen perfekten Tag erwischen möge. Murray jedoch ließ die anderen drei so lange auf seine Schultern drücken, bis aus dem Hexenschuss ein anständiger Bandscheibenvorfall wurde. Auch dieses Jahr begann so. Er verlor die Endspiele von Melbourne und Paris. Jeweils gegen Djokovic.

Andy Murray of Great Britain signs autographs during practice ahead of the US Open 2016 at the Billi

Seine Autogramme sind bei den US Open gefragter denn je: Andy Murray gehört schon lange zu den Big-Four. Derzeit zeigt er besonders, warum.

(Foto: BPI/imago)

Nach der Niederlage bei den French Open allerdings gewann er 22 Partien nacheinander, er siegte in Wimbledon und bei Olympia. "Ich glaube, dass ich gerade das beste Tennis meines Lebens spiele", sagt Murray nun in New York. Damit ihm das auch ja niemand als Koketterie auslegt, schiebt er hinterher: "Ich meine, jetzt mal ehrlich: Ich war in der Vergangenheit noch nicht einmal annähernd so gut wie jetzt."

Also: Was ist da passiert?

Es wäre zu einfach, die erstaunliche Konstanz, die noch erstaunlichere Fitness und dieses Selbstbewusstsein auf die Geburt seiner Tochter im Februar ("Das Beste, was mir je passiert ist") oder die Wiederbeschäftigung von Trainer Ivan Lendl im Juni ("Er tut mir gut, ich habe all meine großen Titel mit ihm gewonnen") zu reduzieren. Es ist vielmehr eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, vor allem aber ist es: perfektes Timing. "Der Knackpunkt war dieses Match gegen Benoit Paire in Monte Carlo", sagt Murray. Im dritten Satz war er gebückt zur Grundlinie geschritten und stinksauer gewesen - doch er richtete sich auf und gewann die Partie: "Das Selbstvertrauen nimmt man mit in die nächste Partie. Dann habe ich gewonnen und gewonnen und surfe nun auf dieser Welle."

Natürlich half ihm, dass er während dieser Siegesserie nicht gegen einen seiner drei größten Rivalen antreten musste. Federer beendete vor Olympia seine Saison vorzeitig. Nadal hat seinen Körper jahrelang zu erstaunlicheren Leistungen getrieben, als es der verkraften konnte; er wirkt mittlerweile eher wie ein Drache, der vom dritten Satz an anstatt Feuer nur noch Rauch spuckt. Djokovic hatte erst eine Verletzung am Handgelenk, danach Schwierigkeiten im Privatleben. "Wir alle haben mal solche Probleme, ich will nun keine Details nennen", sagte er in New York. "Ich habe das gelöst, das Leben geht weiter."

Murray hingegen ist derzeit beschwerdefrei, körperlich wie geistig. Wenn er über die Anlage in Flushing Meadows zum Training schreitet, dann dürfte er bemerken, dass ihn nicht nur die Buchmacher als gleichwertig mit Djokovic betrachten, sondern auch die Verkäufer, die Shirts, Stirnbänder und Socken feilbieten. Wer ihn beim Training beobachtet, der sieht einen lockeren jungen Mann, der nur selten motzt. Lendl steht in diesen Momenten in der Ecke des Platzes und lacht, er weiß: Sein Schützling wird nun nicht wie früher die nächsten beiden Bälle ins Netz oder zu den Fans auf die Tribüne prügeln.

Dreimal Federer: US-Open-Sieger der vergangenen zehn Jahre

2006 Roger Federer (Schweiz)

2007 Roger Federer

2008 Roger Federer

2009 Juan Martin del Potro (Argentinien)

2010 Rafael Nadal (Spanien)

2011 Novak Djokovic (Serbien)

2012 Andy Murray (Großbritannien)

2013 Rafael Nadal

2014 Marin Cilic (Kroatien)

2015 Novak Djokovic

Nach ihm kommt Milos Raonic auf den Platz, ein junger Hüpfer wie Dominic Thiem, Nick Kyrgios oder Kei Nishikori, denen die Dominanz der großen vier so vorkommen muss wie Zahnbelag: Sie werden es nicht ganz nach oben schaffen, wenn sie nicht endlich gründlich dagegen vorgehen. Raonic verfügt zwar über einen beeindruckenden Aufschlag, in Wimbledon konnten die Gegner bis zum Finale nicht mal die Hälfte seiner Spieleröffnungen beantworten. Murray aber schaffte im Endspiel knapp 75 Prozent. So schnell werden die jungen Stars diese großen Vier nicht los.

Murray geht vom Platz, er blickt zu Raonic. Der nickt ihm zu, so wie Murray vor acht Jahren Federer oder Nadal zugenickt hätte. Es ist der Gruß eines aufmüpfigen Soldaten an einen prächtigen Ritter. Zu dem könnte Murray im Januar - auch wegen seiner Erfolge in diesem Jahr - tatsächlich geschlagen werden, der Order of the British Empire ist ihm bereits verliehen worden. "Ich fühle mich bestens", sagt Murray. "Der Ort, an dem ich mich gerade mental befinde, ist ein sehr schöner." Dieser Ort liegt auch an der Grundlinie im Arthur Ashe Stadium. Murray kuriert seine Rückenschmerzen, er atmet ein und weiß, dass es schwer werden wird, ihn in New York zu besiegen.

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