Technologie im Skispringen:Verzwickte Mathematik des Fliegens

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Der Österreicher Gregor Schlierenzauer fliegt ins Tal - aber wie berechnen sich im Skispringen eigentlich die Punkte? (Foto: dpa)

Es geht um Kompensationsregeln, Anlauflängen und Punkte-Gutschriften: Als einziger olympischer Sport zieht das Skispringen auch natürliche Faktoren wie den Wind zur Bewertung einer Leistung heran. Viele halten das für einen Geniestreich - und doch hat die Szene mit den Folgen zu kämpfen.

Von Thomas Hahn

Seit fast zwei Stunden erklärt der Mathematiker Hans-Heini Gasser nun schon, wie er mit den Werkzeugen seines Faches so etwas wie die Wahrheit aus der Wirklichkeit des Skispringens herausrechnen kann. Mit viel Geduld hat er den sogenannten Kompensations-Regeln des Welt-Skiverbandes Fis ein Gesicht gegeben. Und nun steht er vor einer Forderung, die nur ein Laie stellen kann. Er soll die Skisprung-Formel rausrücken? Er soll eine Gleichung hinschreiben, die alles erklärt?

In die man nur ein paar Zahlen einsetzen muss, um ein Ergebnis zu bekommen, das alles sagt über die Leistung eines Skispringers, der von einer Schanze x bei einer Anlauflänge y und einem Wind z ins Tal gesegelt ist? Gasser runzelt die hohe Stirn. "Es ist weder die Aufgabe noch die Fähigkeit der Mathematik, alles auf eine Formel zu bringen." Die Mathematik weiß doch, wie verwinkelt die Wahrheit ist. Auch um das Skispringen abzubilden, braucht sie ein ganzes Gebäude aus Formeln. "Ich kann Ihnen zeigen, wie das aussieht." Gasser hat es unten im Büro. "Ich hol's schnell."

Die Welt des Skispringens funktioniert im vierten Jahr nach Modellen der Mathematik, die es so in keinem anderen olympischen Sport gibt. Mit seinen Kompensations-Regeln gewährt der Weltskiverband Fis seinen Schanzensportlern Punkte-Gutschriften für Nachteile durch ungünstigen Wind oder verkürzten Anlauf.

Die äußeren Umstände fließen ein ins Ergebnis - das hat das Skispringen in seinem Selbstverständnis als Zuschauersport erschüttert, und bei der 62. Vierschanzentournee, die am Samstag mit der Qualifikation zum Auftaktspringen in Oberstdorf beginnt, kann man erleben, wie der Sport immer noch mit den Folgen dieser Revolution kämpft. Wer weiter springt, hat oft nicht mehr das bessere Ergebnis - das verwirrt das Live-Publikum. In Oberstdorf wird deshalb erstmals ein Laserstrahler eine Linie auf den Hang werfen und so für jeden Athleten anzeigen, welche Weite die Führung bringen könnte. Es ist eine Probe, die nicht unwichtig ist für die Zukunft des Skispringens.

Die Kompensations-Regeln bieten einen Anlass, um sich grundsätzlich zu fragen, was ein Freiluftsport sein soll: vor allem fair, sicher und leicht in Fernsehformate zu packen? Oder naturbelassen und im Moment verwurzelt? Es gibt viele, die die Regeln für einen Geniestreich halten. Wechselnde Winde wirken sich weniger aus, und wenn das Risiko besteht, dass Springer wegen zu starken Aufwinds zu große Weiten erreichen, kann die Jury durch Anlauf-Verkürzen deren Tempo dimmen, ohne gleich den ganzen Wettbewerb neu starten zu müssen.

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"Das ist die beste Regel, die es je gegeben hat", sagt zum Beispiel der norwegische Skispringer Tom Hilde, "weil sie den Wettbewerb fairer macht." Andere halten die Regeln für eine Anmaßung. Gregor Schlierenzauer zum Beispiel, der Tournee-Titelverteidiger aus Österreich. "Skispringen ist eine Sportart mit sehr viel Tradition, in der es darum geht, wer am weitesten springen kann", sagt er, "das ist eigentlich der Hauptgedanke. Und wenn dann Situationen herauskommen, dass man kürzer springt als ein anderer und trotzdem vor dem ist, dann ist das nicht ganz in Ordnung für mich."

Hans-Heini Gasser, 82, tendiert zur Fraktion derer, die die Kompensations-Regeln für einen Geniestreich halten. Natürlich. Er ist ja maßgeblich daran beteiligt gewesen. Der sogenannte Gate-Faktor, der Faktor also, der den Zusammenhang zwischen verkürztem Anlauf und Sprungweite ausdrückt - dieser Faktor also war seine Idee. Er hatte ihn schon mal ins Gespräch gebracht, 1976, nach einem Skifliegen in Bad Mitterndorf, das wegen wechselnder Winde ein ziemlich verzögertes Ereignis gewesen war.

"Ich habe damals gesagt, ich kann euch ausrechnen: Wie viel kürzer springt der, der zwei Luken tiefer startet? Das wurde abgelehnt: Skispringen sei eine Outdoor-Sportart." Gasser lächelt nachsichtig. "Ein fürchterlich konservativer Verein, diese Skispringer." Aber 2009 war die Idee plötzlich doch gefragt.

Der Fis-Skisprung-Direktor Walter Hofer sitzt nach einem Weltcup-Springen in seinem Direktoren-Container und erinnert sich an die Fälle, die ihn und seine Leute damals zum Umdenken bewogen. Hofer hält seinen Posten seit über 20 Jahren, das Skispringen hat er mit vielen Reformen nachhaltig umgebaut. Die Einführung der Kompensation war eine der markantesten, und sie hat ihm Tadel von hoher Stelle eingebracht. Bei der Ski-Nordisch-WM 2013 im Val di Fiemme äußerte Fis-Präsident Gian-Franco Kasper vernehmliche Kritik.

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"Wir haben ein Dogma hinterfragt", sagt Hofer. Den Wind in Plus- bzw. Minuspunkten auszudrücken oder einen Wettkampf mit unterschiedlichen Anlauflängen über die Bühne zu bringen, erschien doch lange als undenkbar. Aber es musste sich was ändern. Gerade das Talent Schlierenzauers führte die Jury immer wieder vor ein Dilemma, wenn er als Letzter auf dem Startbalken saß, Aufwind aufgekommen war und eine Anlaufverkürzung nur um den Preis eines Neustarts zu kriegen war.

"Du hattest keinen Handlungsspielraum, der für alle Beteiligten befriedigend war", sagt Hofer. Dazu kam eine Folge des Fortschritts: Das moderne Skisprung-Material ist derart sensibel, dass der Wind-Einfluss groß ist. "Jeder Hauch macht extrem viel aus", sagt Schlierenzauer. Selbst er würde deshalb gerade ungern auf die Regel verzichten. "Denn dann kann's dir passieren, dass du fünf Mal hintereinander einen schlechten Wind hast und 25. wirst, obwohl du eigentlich gut springst." Die Fis gab die Revolution bei Wissenschaftlern in Auftrag. Gassers Idee von 1976 war auf einmal brandaktuell.

Hans-Heini Gasser ist zurück aus seinem Büro und legt einen dicken blauen Ordner auf den Tisch. Gasser ist ein bedächtiger Mann, aber stattlich, und sein Alter scheint ihm noch nicht viel Kraft genommen zu haben. Gasser ist seit 1973 für die Fis tätig. Er ist ein stiller Pionier des Skispringens: Die Standards des modernen Schanzenbaus gehen auf Gassers Berechnungen zurück. Gasser ist Bauingenieur im Teilzeit-Ruhestand, deshalb hat er noch das Büro bei einer Holzbaufirma in seinem Wohnort Lungern, Schweizer Kanton Obwalden.

Die Mathematik begeistert ihn, und wenn er im feinen Schweizerdeutsch davon erzählt, erschließt sich einem schnell, dass es sich bei diesem Fach nicht nur um eine abstrakte Schinderei handelt, als die es viele Schüler kennengelernt haben. Sondern um eine Sprache des Lebens, in der man Phänomene der Physik abbilden kann. "Die Mathematik ist nur das Werkzeug der Physik", sagt Gasser, "sie ist wie für den Dichter die Buchstaben, die er in die richtige Reihenfolge bringt, um seine Gedanken in Worte zu fassen."

Er schlägt den Ordner auf, und es ist, als würde er damit Einblick gewähren in sein Mathematiker-Gehirn. Zahlen, Zeichen, Koordinatensysteme stehen da in ordentlicher Bleistiftschrift auf Karo-Papier. Für einen Laien ist es wie ein Text aus Rätselschrift. Für Gasser sind es die Notizen, die den Einfluss des Windes auf die Flugbahn des Springers ausdrücken oder die Geometrie des Übergangs von Anlauf zu Schanzentisch.

"Recht komplizierte Dinge sind das", sagt Gasser. Die kleine Tätigkeit des Skispringens, der triviale Fernsehsport, über den jeder etwas zu wissen glaubt, wird zu einem seitenlangen Code. Dieser Code wiederum ist die Vorlage für jene Programme, nach denen der Computer bei den Schanzenwettkämpfen nach jedem Sprung im Bruchteil einer Sekunde verschiedenste Daten erfasst und in Punkt-Gutschriften oder -Abzüge umrechnet.

Jede Schanze des Weltcups hat ihr eigenes Formelpaket, das die Fis-Mathematiker aus den charakteristischen Werten der Schanzen zusammengestellt haben. Der Gate-Faktor in Garmisch-Partenkirchen ist ein anderer als in Oberstdorf, ein halber Meter pro Sekunde Rückenwind bringt in Innsbruck eine andere Pluspunktzahl als in Bischofshofen.

Die Berechnung des Gate-Faktors ist kompliziert, noch komplizierter ist es, den Wind-Einfluss in Punktwerte zu gießen. So kompliziert, dass Hans-Heini Gasser anfangs dachte: Das geht gar nicht, weil es nie möglich sein werde, alle Luftbewegungen, die auf den Springer einwirken, erfassen zu können. Aber dann berücksichtigte er das physikalische Gesetz, wonach sich Seitenwind sehr wenig auf die Weite eines fliegenden Objekts auswirkt. Danach ging es. Zumindest ungefähr.

"Man kann nicht die ganze Natur ausmessen und in ein Rechenmodell packen", sagt Hans-Heini Gasser. Eine Ansammlung von Mittelwerten trägt zum Gelingen der Kompensations-Gleichungen bei. Vor allem der Wind lässt sich nicht präzise greifen. "Das verschweige ich niemandem", sagt Gasser. Die Windmessgeräte stehen am Rande des Hangs. Was in der Mitte passiert, weiß keiner, und ohne Daten kann die Mathematik nichts für die Wahrheitsfindung tun.

"Es kommt irgendein Windfaktor heraus", grummelt Gregor Schlierenzauer, "das ist das, was mir nicht schmeckt." Gasser versteht schon, das System ist unvollkommen, keine Frage. Aber wenn es ums Skispringen geht, um diesen seltsamen Sport, der so leicht zum Spiel des Windes wird, dann findet er, dass die Wahrheit mit den Gleichungen immer noch besser ist als die Wahrheit ohne die Gleichungen. Hans-Heini Gasser hat es auch dem Direktor Hofer so gesagt: "Wir sind nicht exakt. Wir müssen Fehler zulassen. Aber im großen Zusammenhang liegen wir richtig."

© SZ vom 27.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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