Taktik-Gespräch:"Özil war einer der besten Offensivspieler der EM"

Taktik-Gespräch: Spielte eine gute EM: Mesut Özil

Spielte eine gute EM: Mesut Özil

(Foto: AP)

Ex-Fußball-Profi Stefan Reinartz spricht im SZ-Interview über die Trends der EM, die Leistung der DFB-Elf - und darüber, warum er Mesut Özil für verkannt hält.

Interview von Sebastian Fischer

Während in Deutschland über seine Idee gestritten wurde, war Stefan Reinartz in der Südsee. "Packing" war das Modewort der ersten Turnierwochen, die ARD-Moderatoren analysierten mit der von Reinartz und seinem früheren Leverkusener Mitspieler Jens Hegeler entwickelten Methodik zur Erfassung von Spieldaten jede Begegnung der EM, während die ZDF-Moderatoren und natürlich Scharen von Twitterern lästerten.

Aber Reinartz, 27, der im Sommer seine Karriere als Fußballer bei Eintracht Frankfurt wegen einer Serie von Verletzungen beendet hat, war in den Flitterwochen. Die Kritik an seiner Idee - vereinfacht gesagt: mit Pässen oder Dribblings ausgespielte Gegner zu zählen - berührte ihn also nicht wirklich. "Ich war tiefenentspannt", sagt er. Packing sei "eine Idee, um den Leuten Fußball besser zu erklären". Nicht mehr und nicht weniger. Die EM hat ihn allerdings auch im Urlaub berührt, die Spiele hat er gesehen. Mittlerweile ist er zurück in Deutschland und wertet für den DFB die Daten der deutschen Spiele aus.

SZ: Herr Reinartz, was hätte Deutschland gegen Frankreich besser machen müssen? Hat einfach nur ein Mittelstürmer gefehlt, der die Tore macht - oder hat die Mannschaft noch mehr falsch gemacht?

Reinartz: Man kann natürlich jetzt an der Mannschaft rummäkeln, aber es war eine sehr gute Leistung dafür, dass wichtige Spieler gefehlt haben und Frankreich aus dem Vollen schöpfen konnte. Wir haben unser Ballbesitzspiel in der ersten Halbzeit durchbekommen, haben unsere Dominanz nur nicht ganz in den Sechzehner reingebracht. Für die Niederlage war letztendlich ausschlaggebend, dass die Konterverhinderung nicht perfekt war, das hätten wir auch in der dünnen Besetzung noch besser machen können. Wenn man den Gegner schon so tief in der eigenen Hälfte bindet wie die Deutschen die Franzosen, dann schafft es zum Beispiel Bayern München extrem gut, die Spieler, die den Konter einleiten, sofort unter Druck zu setzen und in Deckung zu nehmen. Das hat nicht zu hundert Prozent funktioniert.

Ist Deutschland also ausgeschieden, weil die Spieler in der vordersten Linie ihre Aufgaben nicht erfüllt haben, nicht energisch genug angegriffen haben?

Das größte Entwicklungspotenzial liegt bei der deutschen Mannschaft im Gegenpressing und in der Organisation dahinter. Ein Beispiel: Wenn etwa Julian Draxler ins Eins-gegen-eins geht, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass daraus ein Tor entsteht, im niedrigen einstelligen Bereich. Die Wahrscheinlichkeit, dass Frankreich den Ball gewinnt und kontert, ist hoch. Deshalb versucht man sich in der sogenannten Restverteidigung schon so zu stellen, dass der Konter überhaupt gar nicht gespielt werden kann. Das hat nicht so gut geklappt.

Dann wissen die Portugiesen ja, was sie zu tun haben. Wird es ihnen besser gelingen als den Deutschen?

Frankreich ist die bessere Mannschaft. Aber die Portugiesen stehen hinten sehr gut. Es kann schon passieren, dass sie die Franzosen mit ihren eigenen Waffen schlagen und auskontern. Andererseits: Frankreich hat viele extrem athletische Spieler, das lädt nicht zum Kontern ein.

Ist das Spiel ein würdiges Finale dieser EM, sind das tatsächlich die beiden besten Mannschaften, die am Sonntag in Saint-Denis aufeinandertreffen?

Portugal definitiv nicht. Das ist eine ordentliche, ganz gute Mannschaft, mehr aber auch nicht. Bei einem anderen Turnierbaum, in dem sie auf Italien oder Deutschland getroffen wären, hätten es die Portugiesen nicht ins Finale geschafft.

Und Frankreich?

Ist laut unseren Daten die Mannschaft, die am wenigsten überspielt wird, das haben die Deutschen im Halbfinale ja auch erfahren müssen.

Aber das Prunkstück der Mannschaft ist doch die starke Offensive um Griezmann, Giroud und Payet.

Das kommt noch obendrauf, deshalb stehen sie auch verdient im Finale. Aber das Fundament ist die Defensive. 17-mal sind die Franzosen im ersten Spiel gegen Rumänien überspielt worden, gegen die Schweiz nur elfmal, die Daten für die weiteren Spiele: 15, 21, 25, 19. In den K.-o.-Spielen ist es also ein bisschen mehr geworden, aber auf hohem Niveau. Die anderen Mannschaften beißen sich an der Doppelsechs um Matuidi und Pogba die Zähne aus, ein Bollwerk vor der eigenen Abwehr. Sehr schwer, sich da durchzuspielen.

Mesut Özils Leistung? "Ich liebe das Thema"

Stichwort Bollwerk: Defensivfußball hat diese EM geprägt, die langweiligen Spiele wurden kritisiert, das Niveau bemängelt. Teilen Sie die Kritik?

Belgien hat versucht zu kicken, Deutschland hat versucht zu kicken. Die Deutschen haben sehr gepflegten Fußball gespielt: Sie wollen das Spiel gestalten und den Ball haben, und das ist nicht mehr gewöhnlich. Es wird oft sehr risikoarm gespielt. Die Angst, Fehler zu machen, dominiert. Viele Mannschaften haben gar nicht versucht, das Spiel aufzubauen.

Und es hat funktioniert.

Wales, Island und Co. haben gezeigt, dass es erfolgreich sein kann, sich hinten rein zu stellen und zu kontern. Es ist einfach zu trainieren, es ist sehr schwer zu bespielen. Es wundert mich fast, dass in der Bundesliga so wenige Mannschaften so spielen. Die EM hat gezeigt, dass der als unmodern verschriene Konterfußball erfolgversprechend ist.

Befürchten Sie demnach, dass die Fußballverhinderungstaktik Schule macht?

Befürchten ist das falsche Wort. Die Großen sind im Vereinsfußball ja kaum noch zu schlagen. Wenn man dem eine defensive Kontertaktik entgegensetzen kann, finde ich das super. Es ist doch spannend, wenn Mannschaften mit einem klaren Spielstil spielen.

Hinten einmauern und mit langen Pässen nach vorne Tore schießen. Geht so perfektes Packing?

Das ist ein Missverständnis, weil in der ARD vor allem die Szenen gezeigt wurden, an denen man Packing einfach erklären konnte, zum Beispiel der Pass des italienischen Verteidigers Bonucci gegen Belgien, mit dem er gleich zehn Belgier aus dem Spiel nahm. Aber gerade Ballbesitzmannschaften überspielen die meisten Gegner, hier mal drei, da mal vier. Erfolgreicher Fußball ist stilunabhängig. Deutschland kommt mit viel Ballbesitz in die entscheidenden Räume, nur eben nicht gegen Frankreich. Wales und Island versuchen eher, wenig überspielt zu werden - um dann mit wenigen Aktionen sehr viele Gegner auf einmal zu überspielen. Frankreich ist darin top.

Welcher Spieler hat Sie bei der EM am meisten beeindruckt?

Mesut Özil war für mich einer der besten Offensivspieler.

Wie bitte?

Lassen Sie mich das erklären, ich liebe das Thema. Özil polarisiert ohne Ende, aber nur in Deutschland - in England und Spanien wird er gefeiert. Er ist ja auch ein seltsamer Spieler: Viele Tore schießt er nicht, ein richtig guter Dribbler ist er auch nicht, und er ist auch nicht besonders schnell. Man fragt sich, wie er es schafft, so viele Tore vorzubereiten und so effektiv zu sein. Die Antwort: Er ist die beste Anspielstation. Über ihn sind bei der EM mit die meisten Gegenspieler überspielt worden, 66. Özils große Stärke ist das Raumverhalten zwischen den Linien. Da ist er der Beste der Welt. Für Zuschauer sieht das unspektakulär aus.

Aber Özil, der so oft so lethargisch wirkte, der beste Spieler in Frankreich?

Naja, so würde ich das nicht sagen, ein gewisser Griezmann hat ja zum Beispiel sechs Tore geschossen. Aber es zeigt, dass Özil keine schlechte EM gespielt hat.

"Hurra-Fußball reicht nicht"

Gibt es noch andere überraschende Werte?

Die von Graziano Pellè. Es gab ja in den letzten Jahren den Trend weg von den Stoßstürmern als sogenannte Wandspieler, also als vorderste Angreifer. Aber über Pelle (1,94 Meter groß, Anm.) sind als Wandspieler in Frankreich die meisten Gegner überspielt worden, 82. Er hat gezeigt, wie effektiv es sein kann, vorne einen großen Spieler drin zu haben, der den Ball sichert. Ansonsten waren laut unseren Daten die besten Einzelspieler keine großen Überraschungen: die Belgier Hazard und De Bruyne, die Spanier Fàbregas und Iniesta.

Die Spanier sind im Achtelfinale ausgeschieden, die Belgier im Viertelfinale...

Spanien war müde und überspielt. Und Belgien hat eine totale Offensivgewalt, aber es wäre schon besser gewesen, mal zu bedenken, was passiert, wenn sie ihre Angriffe nicht durchbekommen. Belgien ist sehr oft überspielt worden; gerade im Viertelfinale gegen Wales haben sie es nicht geschafft, Konter zu verhindern. Und sie hatten nicht die defensive Qualität, um Situationen zu retten. Anders als die Deutschen mit Benni Höwedes und seiner Grätsche gegen Frankreich.

Trainer Marc Wilmots ist nach dem Aus kritisiert worden. Hätte er sich nicht eine Taktik ausdenken müssen, um die Stärken der Belgier besser zur Geltung zu bringen?

Belgien hat im Schnitt die meisten Verteidiger überspielt, deutlich vor Frankreich und Deutschland. Sie haben die Qualität, aber sie haben es trotzdem nicht gebacken gekriegt. Es sah aus wie Hurra-Fußball, und das reicht nicht.

Die größte Turnier-Enttäuschung waren aber sicher die Engländer, die gegen Island im Achtelfinale ausgeschieden sind.

England hat eine Ideenkrise. Es bräuchte im englischen Fußball einen Rundumschlag wie in Deutschland nach der EM 2000. Was die Deutschen heute besonders auszeichnet, ist ein gutes Raumverhalten. Wir bilden Spieler so aus, dass sie genau wissen, wo sie sich zeigen müssen. Wenn ein deutscher Trainer eine Aufstellung zeichnen müsste - er würde erst mal sagen: Zeig mir die Aufstellung des Gegners, dann male ich unsere Aufstellung da rein. Özil spielt nicht in der Mitte, er spielt zwischen den Sechsern und den Innenverteidigern des Gegners.

Und was würde ein englischer Trainer malen?

Den Rechtsaußen nach rechts außen und den Linksaußen nach links außen. Das ist der größte Wissensvorsprung in Deutschland: eine bessere Definition des Raumes. Der Gegner definiert, wo der Raum ist. Die Kreide markiert die Begrenzung, aber sie kennzeichnet nicht das Feld, in dem gespielt wird.

Und deshalb sieht Englands Fußball trotz der vielen talentierten Spieler immer so sehr nach Hauruck aus?

Wenn ich sehe, wie England gegen Island anläuft, dann sehe ich links hinten einen stehen und links außen. Aber sie positionieren sich nicht dort, wo es Sinn ergibt, wo sie an den Gegnern vorbeikommen. Joshua Kimmich schiebt als Rechtsverteidiger zum Beispiel manchmal so hoch, dass es dem Gegner weh tut. Die Deutschen besetzen die Räume, die Engländer besetzen das Fußballfeld. Deshalb müssen ihre Spieler immer ins Eins-gegen-eins und mit mehr Athletik und Kraft spielen. Sie schaffen es nicht, mit Pass- oder Positionsspiel vors Tor zu kommen.

Profitiert haben die Isländer. Sie sorgten für eine der schönsten Geschichten dieser EM.

Wir haben 2010 mit der U21 1:4 gegen Island verloren. Die haben einen Spielerschwung erwischt, der echt Qualität hat. Es hat auch etwas Gutes, wenn man nur einen kleinen Pool an Spielern hat: Man kann sich einspielen. Und es kann eine Eigendynamik entwickeln, als absoluter Underdog aufzutreten. Der Fußball der Isländer hat gezeigt, wie effektiv Defensivtaktik sein kann. Sie haben mit einfachen Zutaten einen leckeren Kuchen gebacken. Das ist ja auch schön zu sehen, wie einfach Fußball manchmal ist. Ein Tor zu erzielen ist so kompliziert, es braucht gefühlt 400 Pässe. Und Island schafft es mit einem Einwurf. Das ist ja fast schon hämisch.

Taktik-Gespräch: Neues Spielzeug: Matthias Opdenhövel, Stefan Reinartz und Mehmet Scholl (v.l.n.r.) analysieren bei der EM 2016 in der ARD die Packing-Rate von Toni Kroos im Spiel Deutschlands gegen die Ukraine.

Neues Spielzeug: Matthias Opdenhövel, Stefan Reinartz und Mehmet Scholl (v.l.n.r.) analysieren bei der EM 2016 in der ARD die Packing-Rate von Toni Kroos im Spiel Deutschlands gegen die Ukraine.

(Foto: Screenshot sportschau.de)
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