Bundesliga:BVB gegen Bayern - 30 Minuten gewollte Anarchie

Borussia Dortmund v Bayern Munich - German Bundesliga

Bayerns Angreifer Thomas Müller und BVB-Verteidiger Mats Hummels kämpfen um den Ball.

(Foto: REUTERS)

Die erste halbe Stunde des Spitzenspiels in der Bundesliga ist avantgardistisches Heavy Metal, die restliche Zeit ein solider Coldplay-Song.

Analyse von Martin Schneider

Fußballtaktik wurde ursprünglich erfunden, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Thomas Tuchel und Pep Guardiola wollten wieder Chaos, das Chaos des Anderen. Das war die Taktik und der Grund, warum dieses 0:0 in den ersten 30 Minuten das beste Bundesliga-Spiel dieses Jahres wurde. Das Ergebnis dieser gewollten Anarchie war ein irres Tempo, das beide Mannschaften aber nicht länger als eine halbe Stunde durchhielten.

Man verwendet ja gerne Zahlenkombinationen, um das System einer Mannschaft auf einen Text zu übertragen. 4-4-2, 4-4-3, 4-1-4-1, solche Dinger. An diesem Samstagabend war das völlig sinnlos, irgendwann um das Jahr 2005 hat man vielleicht so statisch gespielt. Aber nicht Guardiola und Tuchel, bei denen man ja annehmen muss, dass sie zu Hause auch die Formation ihrer Topfpflanzen je nach Sonnenstand in die optimale Position rotieren.

Das System beider Mannschaften war fast gleich

Taktisch muss man dieses Spiel teilen. Einmal in die ersten 30 Minuten und einmal in den Rest. Die erste halbe Stunde war avantgardistisches Heavy Metal. Die restliche Zeit war ein solider Coldplay-Song.

Das System beider Mannschaften war am Anfang jeweils fast gleich. Und weil es sich je nach Spielsituation änderte, erklärt man es am besten an einer solchen: Zum Beispiel bekommt Philipp Lahm auf Rechtsaußen den Ball von David Alaba. Weil Alaba den Ball schon kontrolliert hatte, wird die Abwehr von Borussia Dortmund von einer Dreier- zu einer Fünfer-Kette. Die übrigen fünf "freien" Dortmunder Feldspieler rennen die Bayern an, Marco Reus und Marcel Schmelzer auf Philipp Lahm, der Rest läuft Anspielstationen zu.

Bayern und Dortmund verteidigen 40 Meter vor dem eigenen Tor

Lahm verliert den Ball wegen des Pressings in der gegnerischen Hälfte. Bayern zieht sich nicht zurück, sondern rückt weiter auf, läuft seinerseits Reus an (in dem Fall kommt Vidal Lahm zu Hilfe) und die Anspielstationen von Reus zu. Hätte Reus den Ball gesichert, etwa durch einen Pass nach hinten, wäre Bayerns Abwehr auch zu einer Fünferkette mit Alonso als zusätzlichem Abwehr-Spieler geworden und die restlichen Fünf hätten Dortmund unter Druck gesetzt.

Das führte zu einem Wahnsinns-Tempo in der ersten halben Stunde. Anlaufen. Ball gewinnen. Ball verlieren. Wieder anlaufen. Je nach Situation neu formieren. Immer mit dem Ziel, in dem Chaos aus Hin-und-Her die Lücke beim Gegner zu finden. Beide Abwehrreihen agierten im Schnitt 40 Meter vom eigenen Tor weg. Und beide Mannschaften mussten je nach Spielsituation entscheiden, ob sie nun mit der ganzen Mannschaft ins Pressing gehen oder nur mit den "Freien Fünf".

Der taktische Unterschied hieß Philipp Lahm

Das erklärt auch, warum die Chancen in dieser Zeit quasi spiegelverkehrt entstanden, denn wann immer es eine Mannschaft schaffte, aus dem Pressing des jeweils anderen Teams rauszukommen, war Platz da. Aubameyang lief in der 11. Minute an Kimmich vorbei auf Neuer zu. Douglas Costa lief in der 28. Minute allein auf Roman Bürki zu. In der 22. Minute kassierte Xabi Alonso eine gelbe Karte, weil er durch ein taktisches Foul einen Konter verhindern musste, in der 36. kassiert Sven Bender eine Verwarnung für eine ähnliche Situation. Borussia Dortmund hatte zudem gute Chancen nach Ecken des FC Bayern, wo sie für ihre Konter ein offenes Feld vor sich hatten.

Der kleine taktische Unterschied zwischen beiden Mannschaften hieß Philipp Lahm. Er ist in der Lage, sich aus engen Spielsituationen zu befreien und kann wie kein anderer Spieler die taktische Lage einschätzen. 42 Prozent aller Angriffe liefen über den Kapitän (29 Prozent durch die Mitte, 28 Prozent über links). Borussia Dortmund versuchte es eher über Lukasz Piszczek, der mit Erik Durm auf der Seite aber viel tiefer stand als das Duo Lahm/Arjen Robben. Zum Erfolg führte es trotzdem nicht.

Nach einer halben Stunde nimmt der BVB den Fuß vom Gas

Drei weitere Gewinner dieser Situation: Arturo Vidal, dem solche offenen Feldschlachten liegen und der vielleicht sein bestes Spiel für den FC Bayern machte. Joshua Kimmich, der als gelernter Mittelfeldspieler unter Druck ballsicher agierte. Und Ilkay Gündogan, der sich wiederholt sehr geschickt aus dem Pressing der Bayern befreite und Aubameyang in den Räumen fand.

Nach einer halben Stunde entschied sich der BVB, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Das Pressing, das Aubameyang, Reus, Gündogan, Henrikh Mkhitaryan und Julian Weigl (Durm war eher Aufpasser für Douglas Costa) aufziehen mussten, wäre kaum durchzuhalten gewesen. Vermutlich rechnete Thomas Tuchel mit einer Führung. "Das hätte uns in dieser Phase geholfen und hätte das Publikum mitgenommen", deutete er nach dem Spiel an.

In der zweiten Halbzeit dominiert Bayern gewohnt

So zog sich Dortmund dann wirklich in einem zuweilen statischen 5-4-1 zurück, schob die Abwehrreihe viel näher vors eigene Tor und überließ Bayern den Ball. Nach 45 Minuten war der Ballbesitz 51:49 für Bayern, der niedrigste Wert für die Pep-Guardiola-Bayern, wie die Statistiker mitteilten. Nach 90 Minuten lag der Ballbesitzwert wieder bei 60 zu 40 für die Münchner. Der BVB wartete nun auf Konter, die er zuvor noch erzwingen wollte.

Die Bayern nahmen die neue Situation dankend an. Denn mit fünf Punkten Vorsprung in der Tabelle mussten sie ja nicht unbedingt gewinnen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: