SZ-Interview mit Rudi Völler:"Wir können immer noch jeden Gegner schlagen"

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Teamchef Rudi Völler über seine größten Probleme: den hohen Ausländeranteil in der Liga und die Angst, bei der WM 2006 zu scheitern.

SZ: Herr Völler, wann haben Sie den Bundeskanzler das letzte Mal getroffen? Völler: Kürzlich bei der Bundesliga-Jubiläumsgala in Köln haben wir ein paar Worte gewechselt. Warum?

SZ: Weil es in Deutschland im Prinzip zwei Bundeskanzler gibt. Zuständig für die Politik ist Gerhard Schröder. Und dann gibt es einen für die Unterhaltung. Der ist fast im gleichen Maße für die Stimmung im Lande zuständig und heißt Rudi Völler. Völler: Das ist hoch gegriffen. Ich bin mir aber bewusst, dass die Nationalelf die wichtigste Mannschaft ist und dass sie Deutschland bewegt. Das habe ich nach dem Island-Länderspiel gemerkt, als es tagelang nur ein Thema gab: mein Fernsehinterview. Und das war auch bei der WM so, die Leute leiden und freuen sich mit uns, sie identifizieren sich voll. In den Jahren davor war das Gefühl eher so, mit der Nationalelf wollen wir nichts zu tun haben. Bei der WM haben wir wieder eine gewisse Euphorie geweckt.

SZ: Die Euphorie schlägt schnell in Depression um. Im Sommer 2000, nach dem EM-Aus, war Land unter: Jedermann bis rauf zum Kanzler beklagte die Lage der Fußballnation, die Suche nach einem Teamchef wurde live übertragen: Stundenlang sah man Parkplätze und zugezogene Vorhänge. Die Nationalelf bewegt das Land, ob sie gut oder schlecht spielt. Völler: Richtig. Ich hatte gedacht, in den drei Jahren inklusive WM hätte ich alle Höhen und Tiefen mitgemacht, nun habe ich gemerkt, dass mich noch etwas beeindruckt: Das war die Geschichte nach Island. Dass die medienmäßig so extrem wurde, war für mich eine neue Erfahrung - weil mir bewusst wurde, was auf uns alle und besonders auf mich zukommt, wenn 2006 die WM im eigenen Lande ist.

SZ: Das spürt man auch an der Verzahnung zwischen Fußball und Politik. Wie intensiv ist der Austausch mit den Spitzen im Lande, beispielsweise mit Gerhard Schröder oder Otto Schily? Völler: Man sieht sich öfter bei Spielen oder Veranstaltungen. Gerade mit Schily ist es nett, er ist ja fast mein direkter Vorgesetzter, als Innenminister ist er auch Sportminister. Bei der WM kam er ab und zu eingeflogen, bei dem wichtigen Spiel gegen Kamerun hat er Glück gebracht. Er war auch gegen die Ukraine (Relegation für die WM 2002, d. Red.) dabei. Als wir uns neulich beim WM-OK sahen, habe ich gesagt, 'kommen Sie doch, gegen die Schotten muss die ganze Nation hinter uns stehen! Das müssen wir gewinnen.' Trotz Terminnöten war er dann da.

SZ: Kann so eine herausragende Position nicht gefährlich werden, wenn etwas richtig schief geht? Völler: Ich weiß, was Sie meinen: ein Scheitern bei EM oder WM. Ich darf gar nicht groß drüber nachdenken. Der Druck ist ja immer da, am stärksten war er vor dem Ukraine-Spiel: Denn dass sich Deutschland nicht für eine WM qualifiziert, gab es ja noch nie. Wir steckten in einer schwierigen Phase: 1:5 gegen England, dann 0:0 gegen Finnland. Aber dann standen alle hinter uns, nach dem Motto: Vielleicht sind unsere Spieler nicht so gut, aber wir müssen alle was dafür tun, auch die Medien, denn wir wollen ja auch alle zur WM.

SZ: Sehr schön; dann kann man es doch auch hinnehmen, wenn die Kritik so deutlich wird wie nach dem Spiel gegen Island, ein Team, das nicht wirklich zu den Furcht erregenden gehört. Völler: Gegen diese Geringschätzung wehre ich mich. Island ist wie eine Reihe anderer Nationalteams viel stärker als noch vor zehn Jahren. Dafür spricht allein, dass über die Hälfte des Kaders in England, Belgien, Spanien, Norwegen und Deutschland unter Vertrag steht. Obwohl das vielen schwer fällt, müssen wir das realistisch sehen. Das markanteste Beispiel dafür ist Albanien: Ich habe mir die Ergebnisse der letzten acht Spiele seit 1983 gegen Albanien angeschaut, allesamt Qualifikationsspiele. Was meinen Sie, was der höchste Sieg war?

SZ: 2:0? Völler: Genau, der höchste Sieg war das 2:0 vor zwei Jahren in Albanien. Die sieben Spiele davor gingen alle mit einem Tor Unterschied aus.

SZ: Mit Statistiken sind Sie bestens gerüstet... Völler: Eine andere Sache ist der Vergleich der Einwohnerzahlen: Wir haben über 80 Millionen Einwohner, und Island hat knapp 300.000. Aber selbst wenn die nur tausend Einwohner hätten, könnten trotzdem elf Mann darunter sein, die gut Fußball spielen. Sonst müsste ja China dauernd Weltmeister werden.

SZ: Der Vergleich hinkt. Für China würde das vielleicht gelten, wenn es dort eine Fußballkultur gäbe, Ligen, Stadien. Aber die Großen sind traditionelle Fußball-Länder mit großen Populationen: Brasilien, England, Frankreich, Italien, Deutschland. Meinen Sie nicht, im Prinzip stimmt diese Größenrechnung? Völler: Die etablierten Nationen sind nicht mehr uneingeschränkt die Großen. Die so genannten Kleinen haben enorm aufgeholt. Im europäischen Fußball hat sich einiges verschoben.

SZ: Sie sagten vorhin, Sie dürften gar nicht daran denken, wenn Sie bei einer EM oder WM scheitern würden. Tun Sie es doch trotzdem mal. Fürchten Sie im Falle eines Scheiterns bei der WM 2006 zum Buhmann der Nation zu werden? Völler: Hin und wieder wird mir das bewusst; aber dann versuche ich, es schnell zu verdrängen. Wenn du dich zu sehr damit beschäftigst, verlierst du den Blick für das Wichtige.

SZ: Und wenn Sie sich vor Augen halten, dass Rudi Völler 2006 durch das Abschneiden seiner Elf bei der WM die Stimmung im Land und damit die Bundestagswahl beeinflussen wird... Völler:...dann gehe ich laufen, um nicht daran denken zu müssen. Das hat mir Franz Beckenbauer geraten. Wenn mir als Spieler einer gesagt hätte, ich würde mal freiwillig durch den Wald ... heute mache ich es sogar gern. Den Zusammenhang zwischen WM und Bundestagswahl finde ich aber übertrieben.

SZ: Da haben Sie noch viele Kilometer Waldlauf vor sich. Nächste Woche gegen Island geht es wieder mal um nicht weniger als alles. Völler: Es geht ans Eingemachte. Aber hätte mir einer vor Beginn der EM-Qualifikation gesagt, am Ende reicht ein Remis gegen Island, hätte ich gesagt: okay.

SZ: Doch die Fernsehzuschauer haben sich einige Male schwarz geärgert. Völler: Wissen Sie, welches Spiel mich geärgert hatte? Das zuhause gegen Litauen. Bei uns liegt es ja fast nie an der Einstellung, in dem Spiel aber schon. Da war ich sauer, weil wir es uns zu einfach gemacht haben. Es war aber eine wichtige Erfahrung, weil es gezeigt hat, dass wir nur mit Leidenschaft und Laufbereitschaft alles herausholen können.

SZ: Wir - und auch Kritiker wie Netzer, Beckenbauer oder Breitner - fanden die Spiele gegen die Färöer und gegen Island nicht weniger schlimm. Das hat Sie nach dem 0:0 in Island in Rage gebracht. Warum haben Sie die Fachkritiker, die so genannten Gurus, so heftig angegriffen? Völler: Wir sind ja alle Ex-Profis, aber ich habe eine ganz andere Philosophie. Gerade als Ex-Profi sehe ich mich in der Rolle des Anwalts der Spieler und Trainer. Aber es ist nicht alles negativ, was sie sagen, manche Dinge helfen ja auch.

SZ: Zum Beispiel? Völler: Beispiele kann ich nicht nennen. Ich wollte nur auf den Einfluss aufmerksam machen, den sie ausüben. Generell war meine Kritik, wenn man überhaupt von Kritik reden kann...

SZ: ...also, Kritik war das durchaus... Völler: ... ja gut, aber es ist immer nur berichtet worden, dass ich auf die Kritiker geschimpft hätte. Dabei habe ich auch darauf hingewiesen, dass wir manchmal zu gut wegkamen. Wir haben gegen Holland oder Italien verloren, wurden aber gefeiert, weil wir spielerisch ordentlich waren. Du kannst gegen England, Frankreich, Italien, Spanien, Brasilien, Argentinien spielen, wie du willst, das ist okay. Aber der Respekt vor den anderen Ländern, die nachrücken, fehlt. Unser Denken ist unverändert geblieben: Die waren vor 20, 30 Jahren nichts, also können die heute auch nichts sein.

SZ: Denken die Deutschen so? Völler: Eigentlich nicht, aber es wird oft zu sehr die Vergangenheit glorifiziert. In Island habe ich deshalb das gesagt, was mir lange auf der Seele brannte. Trotzdem fühle ich mich nicht als Gewinner. Ich bin nicht stolz darauf, die meisten Leute haben jedoch verstanden, was ich gemeint habe.

SZ: War es ein Fehler? Völler: Nein, kein Fehler. Sicher, ich habe mich in der Wortwahl vergriffen und dafür schnell entschuldigt. Im übrigen habe ich mich nicht über Günter Netzer, sondern mehr über Gerhard Delling (ARD-Moderator, d. Red.) geärgert. Die Ereignisse von Reykjavik habe ich abgehakt, dazu äußere ich mich nicht mehr.

SZ: Hat sich ihre Wut nicht über viel längere Zeit aufgebaut? Völler: Kann sein. Aber egal, das ist mein Job, es sind meine Jungs, und wenn ich das Gefühl habe, ich muss sie in Schutz nehmen, tue ich das. Sonst wäre ich fehl am Platz.

SZ: Sind Sie ein Mann mit zwei Gesichtern - Stoiker und Wüterich zugleich? Völler: Ich habe mir diesen Auftritt halt mal öffentlich geleistet. Wer mich kennt, weiß schon, dass ich intern oft ziemlich sauer werde. Wenn ich glaube, Gas geben zu müssen, tue ich das.

SZ: Kalkulierte Wut? Agieren Sie immer so berechnend? Völler: Es gibt immer wieder Leute, die holen Statistiken raus, wenn sie ihnen in den Kram passen. Ich tue das auch, wenn es der Sache hilft. Als wir gegen die Färöer 2:1 gewannen, spielte am gleichen Abend England gegen Mazedonien 2:2, zu Hause! Wissen Sie, was ich meine? Unter diesen Umständen konnte ich unsere Nationalelf in Schutz nehmen. Ich setze gern solche Zahlen und Vergleiche ein. Wissen Sie, warum Tschechien nicht zur WM fuhr? Die haben in Island 1:3 verloren, den Gruppensieg verpasst. In Island. Wir haben dort 0:0 gespielt. Trotzdem ist klar, dass ich mit der Leistung nicht zufrieden war.

SZ: Großartig, vielleicht ist das die neue Leistungsstärke. Bayern-Manager Hoeneß sagt, wir hätten vergessen, die Gesellschaft vorzubereiten, dass wir in jeder Hinsicht nicht mehr zu den großen Nationen zählen. Die neue Realität sei ein Mittelplatz. Was heißt das denn? Völler: Wir können immer noch jeden Gegner schlagen. Wir haben gegen Holland und Italien gezeigt, dass wir mithalten können. An einem guten Tag, wenn der Gegner es zulässt, können wir alle schlagen. Aber an einem mittelmäßigen können wir auch gegen einige verlieren.

SZ: Damit widersprechen Sie Hoeneß. Wenn Sie öffentlich sagen, wir könnten immer noch jeden schlagen, fragt sich der Fan zu Recht, warum die so genannten Kleinen immer so große Probleme bereiten? Das hieße ja, dass die Mannschaft zu selten an die eigenen Grenzen geht. Völler: Heute stehen auch die Kleinen kompakt hinten drin. Dagegen haben wir oft nicht die richtigen Mittel. Gegen Brasilien oder Holland sehen wir deshalb so gut aus, weil die nach vorne spielen. Da machen wir unsere besten Spiele.

SZ: Dafür gehen diese Spiele verloren. Völler: Nehmen wir mal alle Pflichtspiele, seitdem ich im Sommer 2000 Teamchef wurde. Das war die WM-Qualifikation mit acht Spielen, plus zweimal Relegation sind zehn, dann die WM mit sieben Spielen, plus weitere sieben bis jetzt in der EM-Qualifikation - sind 24 Spiele. Wie oft haben wir verloren in diesen 24 Pflichtspielen?

SZ: Gegen England, Brasilien... Völler: ...und jetzt könnt ihr lange nachdenken. Wir haben zweimal verloren. Aber klar, wir haben Probleme im deutschen Fußball.

SZ: Erzählen Sie. Völler: Der Ausländeranteil in der Bundesliga ist zu hoch. Er liegt bei 60 Prozent, im Sturmbereich sind es sogar über 70 Prozent. Wenn wir für unsere drei Auswahlmannschaften dreimal je 20 Spieler auswählen muss, wird es spätestens beim Team 2006 schwierig. Da fallen einem kaum mehr Namen ein. Die Vereine müssen natürlich anders denken, die suchen den Erfolg mit Ausländern. Das kann ich sogar verstehen. Aber die Nationalelf ist an einem Punkt, an dem man ernsthaft nachdenken muss, wie wir die eine oder andere Hürde einbauen können. Das machen die anderen Länder doch längst!

SZ: Welche Hürden? Völler: Nehmen Sie die Italiener: Bei denen kann man einen Nicht-EU-Ausländer nur verpflichten, wenn ein anderer dafür geht. In England muss einer eine Mindestzahl an Länderspielen haben, sonst kriegt er keine Aufenthaltsgenehmigung. In Holland muss der Ausländer ein bestimmtes Gehalt verdienen, das fordert der Verband. Dann kann der Klub nicht mehr sagen: Bevor ich eigenen Nachwuchs aufbaue, kaufe ich lieber einen billigen Ausländer. Alle erschweren den Zugriff auf Ausländer. Nur in Deutschland wird nichts unternommen.

SZ: Wie werden Sie dagegen angehen? Völler: Ich hoffe, dass wir die Bundesliga überzeugen können. Zahlen lügen ja nicht: Die Auswahl hier wird kleiner.

SZ: Wie ist denn die Perspektive für 2006 unter dieser Prämisse - und was ist Ihre Philosophie? Völler: Erst kommt die EM. Danach haben wir keine Qualifikationsspiele mehr und können das eine oder andere ausprobieren. Aber: Dreier- oder Viererkette ist gar nicht so entscheidend, sondern dass du mit Systemen spielen kannst, die auf die aktuellen Spieler passen.

SZ: Ist eine klare, langfristige Erfolgsplanung, wie sie den Franzosen 1998 bei der WM in ihrem Land gelungen ist, bei uns nicht möglich? Völler: Um Frankreich sind viele Legenden gebildet worden. Also, ich habe fünf Jahre in Bremen gespielt, fünf beim AS Rom, zwei bei Olympique Marseille und zwei Jahre in Leverkusen. Und wo war die Jugendarbeit mit Abstand die schlechteste? In Marseille. Aber so ist es doch immer: Wo Erfolg ist, da ist automatisch auch im Jugendbereich alles super. Nur stimmt das nicht immer so. Wir Deutschen hatten eben in den siebziger Jahren eine tolle Generation mit Beckenbauer, Overath, Netzer, Müller. Jetzt sind es eben die Franzosen. Natürlich haben die eine ordentliche Nachwuchsarbeit, aber die ist nicht besser als bei uns.

SZ: Sie meinen, dass es gar nicht auf Taktik und Trainingsmethodik, sondern auf das spielende Individuum ankommt? Völler: Beides. Die Taktik muss man natürlich auf die Spielertypen abstellen. Der AC Mailand, der unter Trainer Arrigo Sacchi Fußball von einem anderen Stern spielte, ist ein gutes Beispiel. Sacchi ist mit Baresi, Maldini, Costacurta, van Basten oder Gullit groß geworden. Es war egal, ob die Viererkette, Dreierkette, mit oder ohne Libero spielten - diese Spieler waren überragend. Sacchi ließ ein System mit Ballhalten auf engem Raum spielen, Viererkette, Abseits und Verschieben. Und das hat er durchgezogen, egal wo er hinging. Gewonnen hat er aber nur etwas mit dem AC Mailand.

SZ: Sie haben leider nur einen Weltklassemann. Muss die DFB-Auswahl also zwangsläufig das Ballack-System spielen - wie immer das aussehen mag? Völler: Wir müssen so spielen, dass wir seine Fähigkeiten so optimal nutzen wie bei der WM. Aber es darf nicht zu viel werden: Bei den letzten Länderspielen war er nicht in der Form, wie wir ihn gerne hätten. Es braucht ein paar weitere Spieler, die diese Last mittragen können.

SZ: Aber Ballack muss man eigentlich in Watte packen. Haben Sie nicht einen erneuten Wutanfall gekriegt, als Ihr Freund Günter Netzer kurz nach dieser Island-Geschichte Michael Ballack Führungsmängel bescheinigte, weil er die DDR-Mentalität nie los werde? Völler: Da hat er mit Ballack den Falschen getroffen. Seit dem Ukraine-Spiel hat Michael eine super Entwicklung genommen, er ist ein absoluter Führungsspieler, die anderen schauen zu ihm auf. Und der Vergleich mit der DDR - das war zu heftig. Zusammen mit Oliver Kahn ist Ballack von der Leistung und von seinem Auftreten her der wichtigste Spieler der Nationalmannschaft.

Interview: Thomas Kistner und Ludger Schulze

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