Studie "Doping in Deutschland":Zweckentfremdung, Irreführung, Betrug

München 1972 - Einmarsch deutsches Team

Die westdeutsche Mannschaft während der feierlichen Eröffnung der Sommerspiele 1972 im Münchner Olympiastadion.

(Foto: dpa)

Die Studie "Doping in Deutschland" zeigt detailliert, welchen faustischen Pakt Mediziner, Funktionäre und Politiker eingingen, um sportlichen Glanz einzuheimsen. Dass es bei vielen Sportlern "zu bedenklichen Nebenwirkungen" kam, war bekannt. Doch es spielte kaum eine Rolle.

Von Johannes Aumüller und Thomas Kistner

"Siegen um jeden Preis", so lautet, populär übersetzt, der Titel der Historiker-Studie der Humboldt-Universität über Doping in Deutschland, die den Sport in Aufruhr versetzt. Sie entwirft ein Szenario, dessen Dichte und Plausibilität Drehbuchreife besitzt. Bekannt sind Grundzüge aus den Stasi-Akten zum Zwangs-Dopingsystem in der DDR: der Weg von der Forschung bis zum Betrug.

Rigoros und systematisch ist demnach in der Bundesrepublik seit den Siebzigern anwendungsorientierte Dopingforschung betrieben worden. Das Gerede von der internationalen Chancengleichheit, so die Autoren, habe dabei dazu gedient, einen letztlich inhumanen Leistungsdruck auf die Athleten zu legitimieren; viele Sportler hätten sich "um ihrer Endkampfchance willen in den 80er Jahren in manchen Disziplinen gezwungen (gesehen), zu dopen".

Die Spirale hin zum Betrug wurde laut Studie durch die Funktionäre und das Bundesinnenministerium (BMI) als Geldgeber "mit begünstigt". Die Forscher stufen die Entwicklung als gezieltes Verschulden des Spitzensportapparats ein: "Die Verselbstständigung des Leistungsprinzips bis zur Konsequenz des sportmedizinisch gestützten Dopingsystems" hätte früh unterbunden werden können und müssen, heißt es.

Systematisch verschleppte Trainingskontrollen

Einen Unterschied zum Osten gab es: Dort ist auch der kausale letzte Schritt, die Dopingabgabe an Athleten, dokumentiert. In der Sportdiktatur kamen die Befehle von oben, da musste am Ende der Kette nichts verschleiert werden. Und mit späterer Entdeckung rechnete ja niemand. Im Westen aber musste das ständig befürchtet werden. Durch Athleten oder Ärzte, die sich widersetzten, und gezielt ausgegrenzt wurden, wie die Studie zeigt: durch eine demokratische, informierte Öffentlichkeit.

Hier war also bei der Anwendung des Erforschten höchste Diskretion geboten. Denn was im Osten Beleg für Systemtreue und Tüchtigkeit von Ärzten und Funktionären war, hätte im Westen Reputation und berufliche Existenz zerstört. Es setzte stets großes Zittern ein, wenn Todesfälle wie Birgit Dressel oder Ralf Reichenbach auftraten. Oder auch nur gewöhnliche Dopingfälle, wobei die Studie auf eine weitere Systematik verweist: Die Dopingtests seien "seitens der Verbände nur unzureichend umgesetzt und Trainingskontrollen bis 1989/90 systematisch verschleppt" worden.

Gemisch aus Berolase und Thioctacid

Ein Ereignis steht beispielhaft für die Gesinnung West: Bei den Sommerspielen 1976 in Montreal wurden laut Studie rund 1200 "Kolbe-Spritzen" injiziert - benannt nach dem Ruderer Peter-Michael Kolbe, der im Finale einbrach, weil er die Spritze nicht vertrug. Sie enthielt ein Gemisch aus Berolase und Thioctacid, das nicht verboten war, aber dem Geist der Regeln widersprach, wie damals Sportärzte rügten, die daher nicht mit zu den Spielen durften. Deutlicher wurden später Juristen. 1992 äußerte sich ein Bezirksberufsgericht für Ärzte in Freiburg bei der Verurteilung eines Sportmediziners auch zur Kolbe-Spritze: die sei "auch zur Leistungssteigerung gegeben worden". Die Athleten hätten in Montreal "Leistungen erbringen können, die sie ohne die Spritzen nicht erreicht hätten".

Also sei Betrug möglich gewesen, weil Doping "die Einnahme oder die Veranlassung des Einnehmens von Medikamenten zur Leistungssteigerung, nicht lediglich zur Therapie" sei. Das Urteil, so die Studie, zeige, dass 1976 offenbar die richterliche Überprüfung des Sachverhalts "Kolbe-Spritze" als Doping-Vorfall versäumt worden sei. Verstörend wirkt in diesem Licht die Tatsache, dass die Wirkung der Kolbe-Spritze in Montreal nicht auserforscht war. Erst einen Monat nach Kolbes Zusammenbruch hatten die verantwortlichen Ärzte sowie Willi Daume, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, den Bericht des federführenden Arztes über seine experimentellen Untersuchungen vorliegen - und auch der war nur "vorläufig".

"Ein Auftrag der Bundesregierung"

Die von der Kolbe-Spritze ausgelöste Dopingdebatte im Land ließ die von BISp und BMI ausgestatteten Sportmediziner in eine Dialektik ausweichen, wie man sie aus dem DDR-Sport kennt. Anhand diverser Grundsatzerklärungen zum Sport seit 1977, die sich formal gegen medikamentöse Leistungsbeeinflussung richteten, zeichnet die Studie nach, wie der Begriff der "Substitution" als Deckmantel für Substanzen bis hin zu Anabolika benutzt wurde. 1983 wurde auf den nächsten Euphemismus umgesattelt: "Regeneration". Zugleich wurde das BISp aufgefordert, die Forschung über "tatsächlich oder vermeintlich leistungsfördernde Medikamente (zu) verstärken". Das mündete später in Studien zu "Regeneration und Testosteron", die von BMI, BISp und den Dachverbänden mitgetragen wurden. Sie müssen den Forschern zufolge "als anwendungsorientierte Dopingforschung verstanden werden, deren Ergebnisse nachweislich auch in der Praxis umgesetzt wurden".

"Bedenkliche Nebenwirkungen"

Der einfache Trick, der dem zugrunde lag: Über seinen Bundesausschuss Leistungssport, zuständig für die Trainingssteuerung, provozierte der Westsport eine Überlastung der Top-Athleten (in den Studien "Übertraining" genannt) - die dann "als Rechtfertigung für einen unterstützenden Medikamentengebrauch bis hin zur Verwendung der anabolen Ursubstanz Testosteron" missbraucht wurden. Die eiserne Trainingsfron bewirkte bei überlasteten Athleten Gesundheitsschäden wie Störungen in der hormonellen Regulation oder Belastungsschäden, konstatiert die Studie. Die Belastung sei nur noch mithilfe von Medikamenten zu bewältigen gewesen - weil "an der überhöhten Trainingsbelastung festgehalten und die medikamentöse Substitution bis hin zur Testosteron-Applikation vorangetrieben" wurde.

Im Kontext beschreiben die Forscher ein faustisches Treiben gegen Ende der Achtzigerjahre: Bei der Studie "Regeneration und Testosteron" seien genehmigte Gelder vom BMI zweckentfremdet worden, weil gesundheitliche Risiken billigend in Kauf genommen wurden - entgegen der offiziellen Behauptung, die Testosteron-Applikation sei nebenwirkungsfrei. Künstliche Hormon-Gaben an die Probanden, darunter Kaderathleten, seien so hoch gewesen, dass deren körpereigene Hormonproduktion unterdrückt wurde. Ein beteiligter Sportarzt habe mitgeteilt, dass bald nach Studienbeginn "die so mit Testosteron behandelten Probanden alle krank wurden". Auch in einer anderen Probandengruppe sei es "zu bedenklichen Nebenwirkungen" gekommen.

"Jeder wusste das"

Die Studie zitiert auch die Sichtweise von Politikern aus CDU, FDP und SPD, die das Vorgehen in der Dopingforschung unterstützten. Die damaligen offiziellen Verlautbarungen standen dem entgegen, entlarvten sich aber selbst. Die für Dopingfälle angedrohten Maßnahmen wie Mittelkürzungen wurden zu keiner Zeit umgesetzt, zugleich ließen die Förderkonzepte ab den Achtzigern in ihrer finanziellen Ausrichtung an "internationalen Erfolgsbilanzen" und der "Endkampf-Chance" wenig Interpretationsspielraum. "Es wurde Doping geforscht, das war ein Auftrag der Bundesregierung, jeder wusste das", sagte der frühere Sportpolitiker Walther Tröger nun dem Deutschlandradio. Das wurde nicht immer so klar gesagt. Als das BMI wegen der Testosteron-Studien auf SPD-Anfrage 1991 unter Druck geriet, sei mit der Wahrheit äußerst ökonomisch umgegangen worden - die Forscher konstatieren gar eine "Irreführung".

Ihr Fazit: Die geförderten Anabolika- und Testosteron-Studien seien auf Leistungssteigerung ausgerichtet gewesen und müssten als anwendungsorientierte Dopingforschung betrachtet werden. "Folglich ist die Förderung dieser Studien mit öffentlichen Geldern unter diesem Gesichtspunkt als illegitim zu beurteilen."

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