Streit im Eisschnelllauf-Verband:Pechstein kann sich jeden Hammer erlauben

Essent ISU World Cup Speed Skating - Day 2

Claudia Pechstein in Berlin.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

"Es gibt immer noch zwei andere, die auch ins Ziel kommen müssen": Die deutschen Frauen scheitern in der Teamverfolgung krachend an der Olympia-Qualifikation, Claudia Pechstein lässt eine Generalkritik folgen. Die 41-Jährige muss aber keine Konsequenzen fürchten, der Verband ist so abhängig von ihr wie nie.

Boris Herrmann

Es ist nicht so, dass es keinen Plan gegeben hätte. Der Plan sah so aus: Eine Runde macht Monique Angermüller die Führungsarbeit, eine Runde lang versucht Jennifer Bay sich konstruktiv einzubringen. Dann läuft Claudia Pechstein vier Runden Vollgas, "und die anderen versuchen mitzulaufen", so drückte es Bundestrainer Markus Eicher aus.

Der Plan für die Teamverfolgung endete mit dem neunten Platz beim Weltcup in Berlin-Hohenschönhausen. Und mit der Gewissheit, dass für die Olympischen Spiele im Februar in Sotschi keine weiteren Pläne geschmiedet werden müssen. 2006 in Turin und 2010 in Vancouver gewannen die deutschen Eisschnellläuferinnen in der Teamverfolgung Gold. Für Sotschi sind sie an der Qualifikation gescheitert. Und zwar krachend.

Während des letzten vergeblichen Versuchs spielte die Hallenregie den Disco-Schlager "Love is in the Air" von John Paul Young ein. Falls das Ironie gewesen sein sollte, war es der Gag des Wochenendes. In Kreisen der deutschen Eisläuferinnen liegt gerade so viel Liebe in der Luft wie im siebten Kreis der Hölle. Pechstein brachte ihre Zuneigung zum Rest des Teams nach der verpassten Qualifikation so zum Ausdruck: "Es gibt immer noch zwei andere, die auch ins Ziel kommen müssen."

Tatsächlich ist Eichers Plan am Sonntag vor allem daran gescheitert, dass die anderen (in diesem Fall Bay und Angermüller) nicht mit Claudia Pechstein mithalten konnten. Es scheint ja generell so zu sein, dass gegen diese unverwüstliche Frau kein Kraut gewachsen ist. Pechstein hat in den Berliner Weltcuptagen über 3000 Meter für den einzigen Podestplatz der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) gesorgt. Das sagt einiges über ihre erstaunliche Formkurve aus. Aber auch über den Rest der hiesigen Kufen-Sportler. Pechstein wird im Februar 42 Jahre alt.

Formschwäche von Stephanie Beckert

Bezüglich der Frage, wie die Berlinerin es in ihrem biblischen Leistungssport-Alter noch schafft, mit der Weltelite mitzuhalten, gibt es unterschiedliche Theorien. Pechstein selbst führt hartes Training sowie einzigartige, maschinell geschliffene Kufen an. Detlef Beckert, Vater der Athletin Stephanie Beckert, fügte neulich seine persönliche Hypothese hinzu ("die ist doch eh voll"), was ihm prompt eine Strafanzeige aus dem Hause Pechstein einbrachte.

Nun kann man sagen, das Verhältnis Pechstein/Beckert kann ohnehin nicht mehr schlechter werden. Trotzdem wird man den Eindruck nicht los, dass Beckerts nachhaltige Formschwäche auch mit dieser anhaltenden Stimmungskrise zu tun haben könnte. "Man sieht, dass sie verunsichert ist", sagt Eicher über Beckert. Die zweimalige Silbermedaillengewinnerin von Vancouver hatte sich am vorvergangenen Wochenende mit letzter Kraft für Sotschi qualifiziert. In Berlin startete sie über 3000 Meter in der B-Gruppe - und wurde Zwölfte.

Davon im weißen Hummer

Für den Team-Wettbewerb wurde die 25-Jährige aus sportlichen wie atmosphärischen Erwägungen zuletzt nicht mehr nominiert. Aber das muss nicht der einzige Grund gewesen sein, weshalb die DESG in Sotschi keine Mannschaft an den Start bringt (auch die Männer verpassten die Olympia-Norm). "Das wurde schon viel früher vergeigt. Das liegt an den Strukturen und am Trainerteam", meinte Pechstein.

Und wo sie schon dabei war, lästerte sie gleich noch ein wenig über die nächsten zwei bis drei Generationen. "Man kann auch mal was in den Sport investieren, statt ins neue Handy", sagte sie in einem Interview. In Fragen des Inhaltes hatte der Bundestrainer diesem Spott nur wenig entgegenzusetzen. Die deutschen Junioren haben in den vergangen Jahren tatsächlich den Anschluss an die Weltspitze verloren. Beim Nachwuchs fehlt es nicht nur an Talenten, sondern auch an Übungsleitern. Eicher nervte deshalb vor allem die Form von Pechsteins Kritik. Und "dass sie jetzt auch über das Trainerteam herzieht".

Es war gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten, wer an diesem Wochenende alles über wen hergezogen war. Matthias Große, Lebensgefährte und Leibwache von Pechstein in Personalunion, soll Eicher aber ausdrücklich versichert haben: "Du warst nicht gemeint." Gemeint war wohl Stephan Gneupel, als Pechstein verkündete, einige Trainer zählten lediglich die Tage bis zur Rente. Gneupel, 66, ist formal schon im Ruhestand, auf dringende Bitte des Verbandes hatte er sich bereit erklärt, bis Sotschi freiwillig auszuhelfen. Gneupel nun öffentlich zu beschimpfen, "des is scho a Hammer", fand Eicher.

Medaillenvorgaben schon nach unten korrigiert

Pechstein weiß, dass sie sich so ziemlich jeden Hammer erlauben kann. Der deutsche Verband ist von ihr so abhängig wie noch nie. Zwar wurden die olympischen Medaillenvorgaben inzwischen im Abgleich mit der Realität von fünf auf "zwei bis drei" nach unten korrigiert. Die aber sollte der DESG-Tross aus Sotschi schon mitbringen, sonst drohen Einschnitte bei den staatlichen Fördermitteln. Gelder, die dringend benötigt werden, um den Verband nach den Spielen grundlegend zu reformieren.

Nach Lage der Dinge können aber nur die Alten die Zukunft sichern. Der Sprinterin Jenny Wolf, 34, wird in ihrer Abschiedssaison zugetraut, noch einmal aufs Treppchen zu gelangen. Um den Rest muss sich Claudia Pechstein kümmern. "Claudia P.", wie Eicher sie nennt.

Eine 41 Jahre alte Hoffnungsträgerin, die zwei Jahre Sperre wegen verdächtiger Blutwerte hinter sich hat, die den Weltverband auf 3,5 Millionen Euro Schadenersatz verklagt, die mit Gott und der Welt über Kreuz liegt und sich mit ihrem Bundestrainer so gut versteht, dass der noch nicht einmal ihren vollständigen Namen aussprechen möchte, und dahinter ein großes Nichts, von dem keiner weiß, wie es entstanden ist, geschweige denn, wie es wegzukriegen wäre - so in etwa lässt sich in aller Kürze die Lage des deutschen Eisschnelllaufs im Olympia-Winter zusammenfassen. Wie gesagt: Love is in the Air.

Manchmal denkt der Bundestrainer Eicher über seine Sportart: "Wer sich das alles auferlegt, muss schon ein bisschen verrückt sein." Das war bestimmt nicht böse gemeint. Aber als Pechstein und Große einen Augenblick später auf dem Parkplatz in einen schneeweißen Hummer kletterten, der an der Seite mit "Mission Sochi 2014" und hinten mit "U.G.M.G." (für: Unternehmensgruppe Matthias Große) beschriftet war, meinte man dennoch erahnen zu können, dass Eicher recht hat.

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