Stimmungskrise bei Hannover 96:Still aus Protest

Hannover 96 - VfB Stuttgart

Er vermisst die Ultras: Lars Stindl (rechts), hier neben Hiroki Sakai.

(Foto: dpa)
  • Weil sich die treuesten Fans von Hannover 96 vom Vereinspräsidenten Martin Kind gegängelt fühlen, unterstützen sie seit Saisonbeginn lieber die Amateure im Ricklinger Beekestadion.
  • Die Profi-Spieler leiden unter dem Fan-Boykott. Mit einem offenen Brief bemüht sich der Klub nun um bessere Stimmung.
  • Hier geht es zur Tabelle der Fußball-Bundesliga.

Von Carsten Eberts, Hannover

Der Anpfiff ertönt, ein paar Minuten wird Fußball gespielt, dann die ätzenden Rufe. "Kind muss weg", schallt es aus dem Ultra-Block in der Nordkurve. Die Krawallmacher, es sind nur 30 bis 50, werden niedergepfiffen, Becher fliegen. So geht es bei jedem Heimspiel. Bei Hannover 96 herrscht Opposition im eigenen Stadion, die einen gegen die anderen.

Sportlich steht es nicht gut um die Niedersachsen, die Partie am Samstag gegen den FC Bayern könnte Hannover in den Abstiegskampf spülen. Noch schlimmer aber ist aus Sicht des Vereins und seiner Fankultur, die einmal als vorbildlich galt, die Stimmung auf den Rängen. Die Arena am Maschsee gilt mittlerweile als eines der leisesten Bundesligastadien. Im Streit mit dem Vereinspräsidenten Martin Kind unterstützen die Ultras seit Saisonbeginn lieber die Amateure im Ricklinger Beekestadion. Dort ist was los: Die U23 spielt jetzt vor mehr als 1000 statt vor 400 Zuschauern.

Zu den Bundesligaspielen kommen nur noch wenige Ultras. Und auch nur, um ihren Protest kundzutun. Gegen die Bayern wird das Stadion zwar ausverkauft sein - es ist der Rekordmeister, der zieht immer. Bei normalen Spielen bleiben aber schon mal 10 000 Plätze frei. Und es ist verdammt leise. Der Klub veröffentlichte am Donnerstag einen offenen Brief, der Abhilfe schaffen soll: "So geht es nicht weiter", schreibt die Vereinsführung. Der Klub habe die Situation unterschätzt, hätte früher reagieren sollen. "Wir haben verstanden", so das Versprechen.

Die Ultras fühlen sich gegängelt

Doch was bedeutet das? Es wirkt, als hätte Hannover 96 seine treuesten Fans, die Ultras, trotzdem abgeschrieben. Deren Verhältnis zu Präsident Kind ist stark belastet, der Konflikt von gegenseitigem Unverständnis geprägt. Seit Jahren gibt es Probleme: Dass Kind ein Fanbanner verbieten ließ (weil darauf ein stadtbekannter Massenmörder zu sehen war) und für einzelne Blöcke die Ticketpreise anhob, weil hier Pyrotechnik verwendet wurde, sind nur zwei Geschichten.

Die Ultras fühlen sich gegängelt, machen ihrem Unmut Luft. Kind wiederum ist kein Mann, der Dinge einfach so hinnimmt. Als die Fans 2012 den früheren Hannoveraner Emanuel Pogatetz weit unter der Gürtellinie schmähten, bezeichnete der Hörgerätehersteller Teile der eigenen Anhänger als "nicht bundesligatauglich". Es fielen auch noch härtere Vokabeln.

Vor der Saison kam es endgültig zum Bruch. Es ging mal wieder um die Feuerwerkerei. Kind beklagte, die Ultras hielten sich nicht an Absprachen; so beim Derby gegen Braunschweig in der vergangenen Spielzeit, als über 90 Minuten gezündelt wurde. Vor dem Rückspiel in Braunschweig wollte der Präsident die Anhänger - auf Empfehlung der Polizei - zu einer organisierten Rückreise in Bussen verpflichten, um Ausschreitungen vorzubeugen.

Fans fordern Entschuldigung - Kind weigert sich

Für die Fans zu viel der Bevormundung. Sie fordern seitdem eine Entschuldigung, Kind weigert sich. Der Fan-Dachverband "Rote Kurve" mit 5000 Mitgliedern wurde aufgelöst, der Dialog eingestellt. "Wir können nicht zurück", sagt einer aus der aktiven Fanszene, der nun zur Regionalligamannschaft geht. Der Boykott gilt zunächst bis zum Saisonende.

Im offenen Brief hofft der Verein nun, dass alle Beteiligten "tief Luft holen" und sich auf das Wesentliche besinnen. Es gehe schließlich um mehr als das Wohl der ein oder anderen Fangruppierung - nämlich um den Klub, die Stadt, die Mannschaft. Mittelfristig würden sich neue Gruppen finden, die Lärm machen und andere Fans mitreißen, da sei man sich sicher: "Für diese Anhänger werden wir werben und werden diese unterstützen. Hand drauf!" Die Ultras, die jahrelang die Stimmung auf den Rängen organisiert haben, werden nicht namentlich erwähnt.

"Wir vermissen sie"

Dabei leiden die Spieler unter dem verweigerten Support. "Wir vermissen sie", sagt Leon Andreasen über die Ultras. Es wäre schön, wenn man die Zuschauer "mal wieder auf unsere Seite ziehen könnte", findet Leonardo Bittencourt. Den "zwölften Mann" haben sie schon lange nicht mehr gespürt. Wer nicht merke, dass die Ultras fehlten, der sei nicht ehrlich, hat auch Lars Stindl gesagt, der identitätsstiftende Spieler im Team. Sein Vertrag läuft im Sommer aus, er wird von Leverkusen und Schalke umworben. Ob er sich am Ende lieber für einen Verein entscheidet, bei dem es laut im Stadion ist?

Die Stimmungsdebatte ist viel größer geworden, als Präsident Kind es wollte. Er sprach lange von "Nebenkriegsschauplätzen", unter denen bedauernswerterweise die Mannschaft leide. Mit der sonstigen Entwicklung seines Vereins ist Kind an sich zufrieden. 96 ist unter seiner Leitung ein gestandener Erstligist geworden, vieles hat sich stabilisiert. Der Klub sei "in der Region angekommen", erklärt Kind gerne, der sich 2017 zurückziehen will. In der Stimmungsdebatte weiß er viele Fans auf seiner Seite, die wiederum die Ultras gerne ganz aus der Arena verbannt sähen. Er würde etwas Neues aufbauen, wenn das bisherige nicht mehr funktioniert.

Bislang scheiterten die Versuche, die Stimmungsmache anderen Gruppen zu übertragen, allerdings kläglich. Auch die Initiative "Pro Stimmung", die sich von Pyrotechnik und den "Kind muss weg"-Rufen distanziert, hat die Lautstärke nicht erhöhen können. Der Verein hat der unbekannten Gruppierung aber auch den Wunsch abgeschlagen, ein Megafon mit ins Stadion zu nehmen, weil dies gegen die Stadionordnung verstoße. Sie will erst wissen, wer dahintersteckt. Solange das Misstrauen derart regiert, singen in Hannover nur die Gästefans.

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