Start der Europameisterschaft:Frankreich vor der EM - zwischen Vorfreude und Vorsicht

Die Polizei probt den Ernstfall, die Sorge um die Sicherheit belastet den Start der Fußball-Europameisterschaft. Was hilft da? Der Glaube an die Behörden. Und Mathematik.

Von Thomas Hummel, Paris

Letzte Nachrichten aus Frankreich: In Lyon haben Einsatzkräfte einen Terrorangriff auf die dortige Fanzone imitiert. Ein Selbstmordattentäter (die Franzosen nennen sie "Kamikaze") zündet in einer Warteschlange eine Bombe, zwei weitere Terroristen schießen in die Menge, eine Panik entsteht. 450 Polizisten und private Sicherheitsleute üben den Ernstfall. Ziel: schnellstmögliche Neutralisation der Terroristen sowie Erste Hilfe für die Opfer.

Damit die Menschen in einem solchen Fall sogleich informiert werden, bietet das französische Innenministerium eine App an, mit dem Namen "Alerte attentat", was so viel bedeutet wie "Attentat-Warnung". Wer sie sich runterlädt, erhält bei Anschlägen sofort eine Eilmeldung auf sein Handy mit Instruktionen, was nun zu tun sei. Besonders für diejenigen, die sich im 300-Meter-Umkreis vom Tatort befinden.

Die Behörden tun alles, so die Botschaft

Die Behörden in Frankreich wollen sich vor dieser Fußball-Europameisterschaft nichts vorwerfen lassen. Es soll die Botschaft hinaus in die Welt: Wir tun alles, um diese Veranstaltung zu sichern. Seit dem 13. November ist dies eine EM unter erschwerten Sicherheitsbedingungen. Als an einem Freitagabend in Paris 137 Menschen starben, erschossen in einem Straßencafé oder bei einem Konzert. Als während des Fußballspiels Deutschland gegen Frankreich drei Selbstmordattentäter versuchten, ins Stade de France einzudringen.

Doch können Terrorübungen oder Smartphone-Apps die Angst vertreiben? Und die Freude wecken? Die Franzosen wirken angespannt vor dieser EM und nicht nur sie. Wer aus Deutschland gerade aufbricht zur EM, dem fliegen die immer gleichen Fragen entgegen: "Hast du keine Bedenken?" - "Hast du keinen Bammel?"

Es wirkt seltsam, dass Mitmenschen einem vor einer Fahrt nach Frankreich besonders innige Wünsche mitgeben. "Pass ja gut auf dich auf und komm gesund wieder!" Dabei geht es nach Paris. Das war in den Augen der Deutschen mal ein Sehnsuchtsort. Die Stadt der Liebe, der Kultur, Alain Delon und Romy Schneider. Dass Paris seit Jahren auch die Stadt der Hektik und der schlechten Luft ist, fiel kaum ins Gewicht. 2015 aber war es die Stadt des Terrors.

Kann man trotzdem hinfahren zu dieser EM? Zu einem Fußballturnier, das ein europäisches Fest sein soll in Zeiten von Flüchtlingskrise und Brexit. Jérôme Boateng hat das für sich mit Ja beantwortet. Der Verteidiger der Nationalmannschaft kann sich darauf verlassen, von Polizeieinheiten beschützt zu werden. Das Mannschaftsquartier verfügt über ein Drohnenabwehrsystem. Für seine Angehörigen lautet seine Antwort indes: Nein. "Meine Familie und meine Kinder werden nicht ins Stadion kommen", sagte Boateng der Sport Bild: "Das Risiko ist mir einfach zu groß."

Erinnerungen an den 13. November

Wer am 13. November im Stadion war, der muss bei der Rückkehr vor allem nach Saint-Denis schon einiges ausblenden. Zweimal hat es gedonnert während der Partie, die Wände haben buchstäblich gewackelt. Die Vorstellung, dass sich dabei ein paar Meter weiter Menschen selbst in die Luft gesprengt haben, ist gruselig. Was Terror bedeutet, kam den Menschen im Stade de France plötzlich sehr nah. Boateng sagt, er wolle sich voll auf sein Spiel konzentrieren bei der EM, "und da fühle ich mich einfach wohler, wenn meine Familie nicht im Stadion sitzt".

Vom Bundeskriminalamt bis zum amerikanischen Außenministerium warnen Behörden vor möglichen Anschlägen. Die Franzosen schütteln deshalb mit dem Kopf, dass die Veranstalter unbedingt die Fanzone auf dem Champs de Mars vor dem Eiffelturm installieren müssen. Ein Public Viewing für 90 000 Menschen. Und auch wenn Innenminister Bernard Cazeneuve versichert, die Fanzonen "perfekt abzuriegeln", heben viele Leute die Schultern und sagen, dass sie keinesfalls dorthin gehen werden.

Hilft die Mathematik?

Doch leben die westlichen Gesellschaften nicht generell mit der Gefahr? Großereignisse sind im Fokus, größere Menschenansammlungen sollte man meiden. Die Münchner reden seit Jahren über eine Bombe auf dem Oktoberfest und packen sich trotzdem weiter in Lederhosen und Dirndl. Der Kölner Karneval? Aus ganz Deutschland reisen die Narren an. Und vor dem Länderspiel in Berlin gegen England gab es in Berlin scharfe Sicherheitskontrollen am Eingang, weshalb sich in der Dunkelheit Hunderte vor ebendiesen drängelten.

Vielleicht hilft den Leuten der Glaube daran, dass sich die Staaten im Anti-Terror-Kampf augenscheinlich wappnen. Oder die Mathematik. Der britische Risikoforscher David Spiegelhalter rechnete im Magazin Spiegel vor, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Franzosen, bei den Attentaten in Paris zu sterben, rechnerisch bei zwei zu einer Million lag. Das sei, als würde man eine Münze 19 Mal werden und es käme 19 Mal Kopf. Eben extrem unwahrscheinlich. Wenn die Theorie stimmt, dass Terroristen immer da zuschlagen, wo man am wenigsten damit rechnet, dann dürfte es in den kommenden vier Wochen wenige Orte auf der Welt geben, die sicherer sind als Paris.

Allerletzte Meldungen aus Frankreich: Die Pariser wuseln durch die Straßen, fahren mit der Metro, genießen die ersten Sonnentage nach Wochen mit Kälte und Regen und sitzen in den Cafés oder am Bassin de la Villette wie eh und je. Das haben sie schon Stunden nach den November-Attentaten angekündigt und mit der ihnen eigenen Sturheit umgesetzt.

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