Standardsituationen im Fußball:Riecht nach Rehhagel

Wird im deutschen Fußball die Standardsituation unterschätzt? In der Ära des Bundestrainers Joachim Löw ist die Spezialdisziplin vernachlässigt worden. Dabei haben einige Bundesligisten zuletzt eindrucksvolle Tricks und Tore nach ruhenden Bällen präsentiert.

Christof Kneer

Risse war Pinto, Ivanschitz war Huszti, Diaz war Rausch, aber Szalai war nicht Diouf. Zu Szalais Ehrenrettung muss man sagen, dass er in dieser Versuchsreihe den schwersten Job erwischt hatte. Der Job des Mainzer Stürmers wäre es gewesen, Hannovers Stürmer Diouf zu doubeln, und das hätte bedeutet, sich im Strafraum seitwärts fallen zu lassen und den Ball mit der Kniekehle ins Tor zu lenken. Szalai kam nicht mal dazu, es zu probieren, der Ball erreichte ihn gar nicht. Die Hereingabe von Diaz blieb an einem Abwehrbein hängen, von dort hüpfte der Ball ans Bein von Diaz. Und von dort ins Aus.

Mirko Slomka, dem Trainer von Hannover 96, gefällt diese Geschichte, er nimmt es als Kompliment, dass die Gegner ihn jetzt schon nachmachen. Es war ja auch wirklich ein hübsches Tor, das seiner Elf da am vorigen Wochenende gegen Mönchengladbach geglückt war: In halblinker Position hatte Schlaudraff den Ball angetippt, Huszti stoppte ihn, Pinto kam angesaust, schoss aber nicht. Stattdessen schob Huszti den Ball in den Lauf von Rausch, der sich mit gelangweilter Miene an der Mauer vorbei geschlichen hatte. Plötzlich ließ Rausch die Maske fallen, er sprintete Richtung Torauslinie, und dann kam der Ball. Es folgten: Rauschs Querpass, übertölpelte Gladbacher, ein abfälschendes Abwehrbein, Dioufs Kniekehle. Tor für Hannover.

Thomas Tuchel, Trainer von Mainz 05, hat dieses Tor am Wochenende gesehen, und er hat sich spontan verliebt. Am Montag hat er diesen Trick im Training sofort nachstellen lassen, am nächsten Tag haben sie ihn im Pokalspiel gleich ausprobiert. Aber wie gesagt: Statt Tor für Mainz 05 gab es Abstoß für Erzgebirge Aue.

Das Praktische an dieser Geschichte ist, dass jeder sie so lesen kann, wie er möchte. Die Sympathisanten der Standardsituation dürfen sich bestätigt fühlen, weil diese Szene beweist, dass man mit ein bisschen Schöpfergeist eine professionelle Abwehr aussehen lassen kann wie einen Haufen Betrunkener, die beim Versuch, die Beine zu sortieren, über den Nebenmann stolpern.

Die Skeptiker dürfen sich aber auch bestätigt fühlen, weil diese Szene genauso beweist, dass auf dem langen Weg zum Tor schon eine Menge glückliche Umstände (siehe: Kniekehle, abfälschendes Abwehrbein) zusammenkommen müssen, um am Ende einen Treffer zu ergeben.

"Auf den Hrubesch, gleich knallt's"

Die Standardsituation ist ein deutsches Heiligtum, aber es ist arg geschändet worden zuletzt. Bislang war noch jede deutsche Nationalelf, die ein Finale erreichte, auf Standardtore angewiesen - bis auf die begnadeten Stilisten der EM-Elf von 1972, in deren Tradition Bundestrainer Löw sein Team am liebsten sehen würde. "Stell' die Linse scharf auf den Hrubesch, gleich knallt's", rief Karl-Heinz Rummenigge im EM-Finale 1980 einem Fotografen zu; kaum war die Linse scharf, rammte Hrubesch die Ecke zum 2:1 ins Tor. 1986, im WM-Finale, machten Rummenigge und Völler gegen Argentinien aus einem 0:2 ein 2:2, jeweils nach Ecken von Brehme. 1990, beim WM-Triumph, gelang nach dem Achtelfinale kein Tor mehr aus dem Spiel heraus. Und 1996 konnte sich Oliver Bierhoff nur deshalb mit einem Golden Goal berühmt schießen, weil er vorher einen Ziege-Freistoß zum 1:1 eingeköpft hatte.

Bayern München - FC Chelsea

So effektiv können Standards sein: Didier Drogba (Zweiter von links) verwandelt die einzige Ecke für Chelsea im Champions-League-Finale gegen die Bayern.

(Foto: picture alliance / dpa)

Joachim Löw wird von der Standarddebatte erbittert verfolgt, immer bei großen Turnieren holt sie ihn ein. Inzwischen ist die Debatte auch in der Liga angekommen, spätestens seit dem Wochenende, als zwei Partien den oberen und unteren Rand der Skala definierten: einerseits das Spiel Hannover gegen Gladbach, bei dem Hannovers Tricktor zum 2:0 nicht zum Sieg reichte, weil beim Gegner Juan Arango mitspielte - ein Künstler, der eine skandalöse Art der Wettbewerbsverzerrung darstellt, weil sein linker Fuß so vollkommene Standards tritt, dass seine Borussia noch 3:2 siegte.

Auf der anderen Seite das Spiel Bayern gegen Leverkusen, das Bastian Schweinsteiger zur Generalkritik animierte - in diesem Spiel waren Bayerns Standards von ähnlich imponierendem Dilettantismus wie im Champions-League-Finale, in dem sich der FC Chelsea durch ein Eckballtor in die Verlängerung rettete, dessen zynische Choreografie (Lampard blockt Gegenspieler, Drogba köpft) noch unter José Mourinho einstudiert wurde. "And now goal", hatte Chelsea-Profi David Luiz dem Bayern Schweinsteiger vor der Ecke zugeraunt. Er wusste, was kommen würde. Er kannte den Trick schon.

"Standardsituationen sind gerade im modernen Fußball extrem wertvoll", sagt Mirko Slomka, "wenn sich gut organisierte Teams auf Augenhöhe begegnen, kann ein Standard den Ausschlag geben." In Hannover hat Slomka extra den Kauf einer Ballmaschine veranlasst, "ein sensationelles Ding", schwärmt er, programmierbar auf unterschiedliches Tempo, unterschiedlichen Schnitt, unterschiedliche Flugkurven.

Slomka zählt zu den Standardverfechtern in der Liga, wie Stuttgarts Bruno Labbadia, Freiburgs Christian Streich oder der Schalker Huub Stevens. "Zu meiner Schalker Zeit wurde ich manchmal belächelt, wenn wir wieder ein Tor nach einer Freistoßflanke gemacht haben", sagt Slomka. Das ist ja das Problem der Standardsituation: dass sie in den Nasen der modernen Coaches ein bisschen nach Rehhagel riecht - obwohl es nicht nur um die banale Freistoßflanke geht, sondern auch um hoch artifizielle Kunstwerke wie bei Hannovers 2:0. Joachim Löw würde das nie so sagen, aber für ihn sind Standards die Spielzüge des kleinen Mannes. Sie stammen aus den Restschulen des Fußballs, nicht aus den heiligen Akademien. Sie sind für Mannschaften da, die nicht kicken können.

"Ich ertappe mich auch manchmal dabei, dass ich das Standardtraining ein bisschen vernachlässige", sagt der Mainzer Thomas Tuchel, 39, der schon als ziemlich kompletter Trainer gilt. "Wenn wir über Standards reden oder ich Tore wie von Hannover sehe, bin ich begeistert", sagt er, "aber wenn es an die praktische Umsetzung geht, verfliegt die Euphorie." Tuchel hält es für ungerecht, den Fußballtrainern die Kollegen aus Handball und Basketball mit ihren standardisierten Zügen vor Augen zu halten. "Das kann man nicht vergleichen", sagt er, "im Fußball gibt es mehr limitierende Faktoren. Der ruhende Ball ist eben noch lange kein kontrollierter Ball. Mit dem Fuß ist der Ball nicht so genau zu adressieren wie mit der Hand, außerdem ist eine viel größere Distanz zu überbrücken, und es gibt einen Gegner, der einem in den Spielzug grätschen kann."

"Bis zu 30 Prozent aller Tore fallen aus Standards"

Tuchel steht für jene Mehrheit der Ligacoaches, die Ecken und Freistöße auf ihren To-do-Listen etwas weiter unten führen, aber er hat ein produktiv schlechtes Gewissen dabei. Er hat sein Training inzwischen umgestellt, im Sommer hat er verschiedene Eckballvarianten üben lassen, eine davon hat am Wochenende zu einem Tor geführt.

"Bis zu 30 Prozent aller Tore fallen aus Standards", sagt Robin Dutt, der Sportdirektor des DFB, aber er weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Quote Vereinstrainer in ein Dilemma stürzt. "20 Prozent Standardtore fallen ja auch ohne spezielles Training, und da fragt sich ein Trainer, ob er wegen zehn Prozent, die ihm außerdem keiner garantiert, so viel Trainingszeit opfert" - zumal Trockentraining gegen eigene Teamkollegen eher nicht zur Wettkampfsimulation taugt. Trotzdem empfiehlt Dutt Standardtraining, "man kann es sich nicht mehr erlauben, ein paar Prozente herumliegen zu lassen", sagt er. Standardtraining, meint er, sei wieder im Kommen.

Mirko Slomka, der Standardfreund, sagt, es sei im Moment nicht mehr so einfach, Ecken und Freistöße trainieren zu lassen, es ist Herbst jetzt, "die Spieler bewegen sich da weniger, sie kühlen aus, kriegen leichter eine Verhärtung oder erkälten sich". Hannovers Gegner sollten trotzdem nicht allzu sehr aufatmen. Ballmaschinen werden nicht krank.

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