Stadion-Katastrophe in England:"Sie bringen uns um!"

20 Jahre nach der Stadion-Katastrophe von Hillsborough, bei der 96 Menschen starben, sind Trauer, Schmerz und Wut kaum weniger geworden.

Raphael Honigstein

"Sie bringen uns um, Brucie, sie bringen uns um", riefen die verzweifelten Fans auf der Tribüne hinter Bruce Grobelaar. Der Torwart des FC Liverpool sah, wie wenige Meter entfernt von ihm Menschen vom Druck der Masse gegen die Zäune gepresst wurden, wie sie im Stehen kollabierten.

Stadion-Katastrophe in England: Im Gedenken an die Katastrophe trug Stephen Warnock, Kapitän der Blackburn Rovers, am Ostersamstag ein Blumengedeck ins Stadion von Liverpool.

Im Gedenken an die Katastrophe trug Stephen Warnock, Kapitän der Blackburn Rovers, am Ostersamstag ein Blumengedeck ins Stadion von Liverpool.

(Foto: Foto: AP)

Er bat einen Polizisten um Hilfe, doch der reagierte nicht. Die Fans in den sogenannten pens (Ställen) einzupferchen, sie nicht auf das Spielfeld oder in andere Blöcke stürmen zu lassen, hatte damals - in der Dekade des Hooliganismus - absolute Priorität für die Ordnungskräfte.

Als die Polizei endlich bemerkte, dass sich vor ihnen Augen die größte Katastrophe in der Geschichte des englischen Fußballs ereignete, war es zu spät. 96 Menschen starben im Hillsborough Stadion von Sheffield am 15. April 1989 oder erlagen später ihren Verletzungen, 730 weitere wurden zum Teil schwer verletzt oder blieben auf ewig traumatisiert.

Völlig überforderte Polizei

Am diesem Mittwoch werden in Liverpool um 15:06 Uhr die öffentlichen Verkehrsmittel für zwei Minuten stehen bleiben, die Glocken der beiden Kathedralen werden läuten. Steven Gerrard, der Kapitän des FC Liverpool, wird seiner Mannschaft die Gedenkfeier für die Toten abhalten.

"Die Erinnerung an Hillsborough ist sehr wichtig für den Verein", sagt der 28-Jährige. "Bei uns geht es nicht nur darum, was auf dem Platz passiert. Wir halten zusammen, in guten wie in schlechten Zeiten. Fans und Spieler werden nie vergessen, was passiert ist."

Auf Wunsch des Vereins wurde das Champions-League-Viertelfinale beim FC Chelsea (Hinspiel 1:3) auf den Dienstag vorgezogen. Niemand wollte am Jahrestag von Hillsborough spielen, denn die Vergangenheit ruht nicht. Zwanzig Jahre später sind Trauer, Schmerz und Wut kaum weniger geworden.

Es war ein warmer Frühlings-Samstag damals in Sheffield, ab und an schien die Sonne. Der FC Liverpool spielte gegen Nottingham Forest im Halbfinale des FA-Pokals, gemäß der englischen Tradition auf neutralem Platz. Die Stimmung war ausgelassen und friedlich.

20 Minuten vor Anpfiff stauten sich vor dem Leppings Lane End, der den Liverpooler Fans zugeteilten Westtribüne, jedoch die Massen. Nur drei Eingangstore waren für die mehreren tausend Besucher geöffnet. Als die Mannschaften den Platz betraten, wurde das Gedränge gefährlich. Die völlig überforderte Polizei beschloss, "Gate C", ein zusätzliches Tor zu öffnen.

Tausende Fans strömten daraufhin unkontrolliert ins Stadioninnere, die meisten gelangten durch einen Tunnel in die bereits hoffnungslos überfüllten Sektionen 3 und 4. Menschen starben, live im Fernsehen, vor einem Millionenpublikum. Um 15 Uhr war angepfiffen worden, nach sechs Minuten wurde das Match abgebrochen.

Nur ein Rettungswagen

Endlich geöffnet werden auch die Notausgänge, die auf den Platz führen, geöffnet. Ein einziger Rettungswagen gelangte eine halbe Stunde später auf den Rasen, 40 Ambulanzen wurden von der Polizei vor dem Stadion zurückgehalten. "Unfalltod" schreibt der Untersuchungsrichter später als Todesursache in seinen Bericht. Alle Opfer seien vor 15:15 Uhr ums Leben gekommen, hält er fest. Somit sind die Rettungskräfte offiziell entlastet.

Die von der Thatcher-Regierung eingesetzte Untersuchungskommission unter Lord Taylor gibt der Polizei die Schuld, doch weder Einsatzleiter David Duckenfield noch andere Verantwortliche werden jemals persönlich belangt. Die Sheffielder Polizei schreibt Zeugenberichte um, behauptet, dass viele Liverpooler Fans betrunken und ohne Karten ins Stadion gedrängt hätten.

Maria Eagle, Staatssekretärin im Justizministerium, spricht von einer "schwarzen Propaganda-Kampagne, einer Verschleierungstaktik" der Behörden. "Hillsborough, das sind zwei Desaster", sagt Margaret Aspinall, deren 18-Jähriger Sohn James auf der Tribüne zerquetscht wurde. "Das eine trug sich im Stadion zu, das andere danach. So lange ich lebe, werde ich nicht aufhören zu kämpfen. Bis ich weiß, wie und warum James sterben musste."

Angehörige fühlen sich allein gelassen

Auf die Hilfe des Establishments konnten die Anhänger der Reds nicht zählen: Liverpool stand in den achtziger Jahren als Stadt der Minenarbeiter und aufsässigen Gewerkschaften im permanenten Konflikt mit der Thatcher-Regierung.

Nur vier Tage nach dem Unglück machte die damals erzkonservative Sun unter der Zeile "DIE WAHRHEIT" mit einer diffamierenden Sensationsstory auf: Liverpool Fans hätten im Hillsborough auf Leichen uriniert, von den Toten gestohlen und sich mit Hilfe leistenden Polizisten geprügelt, behauptete das Boulevardblatt. Die Sun entschuldigte sich erst 2004 für den völlig unfundierten Artikel, "den schlimmsten Fehler in unserer Geschichte".

Weite Teile der Stadt boykottieren die Zeitung noch immer. "Wie kann man trauern, wie kann man das Trauma bewältigen, wenn die großen Lügen wiederholt werden, wenn gegnerische Fans verstärkt ,Ihr habt eure eigenen Fans getötet' singen?", fragt Tony Evans, Fußballredakteur der Times und damals als Jugendlicher im Stadion.

Die Angehörigen fühlen sich noch heute vom Rest des Landes in ihrer Ohnmacht allein gelassen, obwohl Hillsborough im kollektiven Gedächtnis der Fußballnation heute als Wendepunkt und Aufbruch in die bessere Gegenwart verankert ist.

Lord Taylor empfahl 1990 die Abschaffung der Zäune und Stehtribünen; modernere Spielstätten, neue Überwachungskonzepte und nicht zuletzt auch ein Umdenken bei den Fans legten in der Folge die Grundlagen für die Renaissance des beautiful game auf der Insel. Die Angehörigen der Opfer aber finden wenig Trost in dieser Erfolgsstory, da diese die Toten und Schuldigen von Sheffield vernachlässigt.

Trevor Hicks, 63, der zusehen musste, wie seine Töchter Victoria, 15, und Sarah, 19, erdrückt wurden, sagt: "Die Zeit heilt leider nicht alle Wunden." In der Stadt an der Mersey ist dies keine Phrase, schon gar nicht für Steven Gerrard. Sein Cousin Jon-Paul Gilhooley, 10, war das jüngste Opfer von Hillsborough. Der englische Nationalspieler hat ihm seine Karriere gewidmet.

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