Stabhochsprung:Es donnert

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Brasiliens Thiago Braz Da Silva siegt mit olympischem Rekord im Stabhochsprung - der unterlegene französische Favorit Renauld Lavillenie klagt übers Publikum.

Von Saskia Aleythe

Noch um zwei Uhr nachts sah Sam Kendricks frisch aus. Ein klarer, fröhlicher Blick paarte sich mit klaren Worten. Der Amerikaner war Dritter im Stabhochsprungfinale der Männer geworden, die Bronzemedaille hatte er aber schon abgelegt. "In Wettkämpfen", begann Kendricks seine Rede, fast schon entzückt wie ein Professor, der endlich einmal zu seinem Nischenthema befragt wird, für dass er ewig habilitiert hatte. "In Wettkämpfen nehmen Emotionen manchmal Überhand", sagte Kendricks also, lächelte weiter und saß aufrecht und aufgeweckt auf seinem Stuhl, späte Stunde hin oder her: "Genau das haben wir heute gesehen."

Kendricks hatte den kühlsten Kopf in dieser Nacht bewahrt, was vor allem daran lag, dass er in den Stunden nach seinem Wettkampf nur noch Statist war. Thiago Braz Da Silva und Renaud Lavillenie mussten die Fragen beantworten. Der Brasilianer und der Franzose, der Goldmedaillengewinner und der Zweite. Der Überwältigte und der Empörte, der seinem Gegner die Gratulation verweigerte. Die Entscheidung um die Goldmedaille im Stabhochsprung war längst entrückt von ihrem sportlichen Charakter, sie wurde sogar politisch durch eine unüberlegte Äußerung, und am Ende stand die Frage im Raum: Dürfen die Zuschauer bei diesen Spielen so anfeuern und ausbuhen wie sie es tun?

Renaud Lavillenie gehört eher zu den selbstbewussten Typen auf diesem Planeten, was er ja auch sein kann mit seinen Erfolgen. Er hält seit zwei Jahren den Weltrekord mit 6,16 Metern; damit könnte er locker eine männliche Durchschnittsgiraffe überspringen. Er ist auch der aktuelle Weltmeister und der Olympiasieger von 2012, und er war auch der Olympiarekordhalter, bevor Da Silva ihm in Rio über den Weg lief. Die beiden Athleten waren als Einzige im Wettkampf verblieben, der Kampf um Gold war längst ihrer. Immer wenn Da Silva seinen Anlauf startete, donnerten die Jubelschreie durch die Arena. Es donnerte auch, wenn Lavillenie seinen Anlauf startete, aber in anderer Weise: Das Publikum buhte. Und zwar nicht zu knapp.

Geradewegs nach oben: Thiago Braz Da Silva schwingt sich zum Olympiasieg auf. (Foto: Lee Jin-man/AP)

Was Fußball-Profis in fremden Stadien ein mildes Lächeln abgewinnen würde, machte den Franzosen ganz kirre. Es ist ja tatsächlich unüblich bei der Leichtathletik, die sich als Gesamtangebot für den Zuschauer versteht, auch mit der Vielfalt der Athleten. Silva lag nun jedenfalls vorne mit 6,03 Metern, das waren zehn Zentimeter mehr als seine bisherige Bestleistung. Und Lavillenie musste kontern: Er hatte schon 6,08 Meter auflegen lassen, bei 6,03 war die Latte zwei Mal hinuntergeplumpst. Lavillenie lief an, katapultierte sich nach oben, doch es reichte nicht. Er scheiterte, seiner Meinung nach auch wegen des Publikums: "Ich habe an mich geglaubt, aber in diesem Stadion war es unmöglich, sich zu fokussieren." Sie seien nicht beim Fußball, sondern bei der Leichtathletik, erklärte Lavillenie: "Ich bin sehr traurig und enttäuscht über die Brasilianer."

Verstörend war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf ging. "1936 war die Menge gegen Jesse Owens", sagte Lavillenie in seiner ersten Frustration: "Wir haben so etwas seitdem nicht mehr erlebt. Wir müssen damit umgehen." Der weiße Franzose verglich sich also mit dem schwarzen Amerikaner, der bei den Olympischen Spielen in Berlin vier Goldmedaillen gewonnen hatte, wobei ihm die Zuschauer im Stadion freilich zugejubelt hatten, zum Leidwesen der regierenden Nazis.

Lavillenie entschuldigte sich noch auf der Pressekonferenz für seinen schrägen Vergleich, er sprach von einem "riesigen Fehler", der im Zuge der Emotionen entstanden war. Das gab dann ja auch Professor Kendricks Recht. Der versuchte noch, etwas zu beschwichtigen: "Man muss sich dieses Land mal anschauen - es ist ein sehr emotionales Land, eins mit einer Fußball-Kultur." Lavillenie beharrte zumindest darauf, dass die Zuschauer unfair gewesen seien: "Ich habe viele, viele Wettkämpfe in vielen, vielen Ländern mitgemacht", sagte er, "aber das ist das erste Mal, dass ich so ein Publikum erlebt habe; dass alle gegen alle Springer waren, nicht nur gegen mich - nur gegen den Brasilianer nicht."

Nachdem sich der Franzose seinen Frust von der Seele geredet hatte, durfte der Brasilianer, der die kaum 10 000 Zuschauer im Stadion wieder wachgerüttelt hatte, noch etwas weitererzählen. Davon, dass er vor 18 Monaten nach Italien gegangen war, um dort zu trainieren und sich vorzubereiten. Davon, dass ihn einst sein Onkel, der selber Zehnkämpfer war, zum Stabhochsprung gebracht hatte. Und davon, dass er nicht bei seinen Eltern aufgewachsen war, sondern bei seinen Großeltern.

In vier Jahren wolle er sich die Medaille zurückholen, kündigte Lavillenie an. Und dann, irgendwann zwischen all den Emotionen an diesem Abend, formulierte er noch eine interessante Frage: "Da ist kein Respekt dabei und kein Fairplay. Wenn wir keinen Respekt bei Olympia haben können, wo denn dann?" Ein Satz, der erst zynisch klang, und dann sehr traurig.

© SZ vom 17.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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