SSC Neapel:Süden gegen Norden, Arm gegen Reich

Juventus Turin - SSC Neapel

Die Spieler aus Neapel jubeln nach ihrem späten Sieg gegen Juventus Turin.

(Foto: dpa)
  • In Italien duellieren sich Juventus Turin und der SSC Neapel im Meisterschaftskampf.
  • Turin könnte den siebten Titel nacheinander gewinnen, Neapel die erste Meisterschaft seit 1990.
  • Bei diesem Duell treffen verschiedene fußballerische Philosophien aufeinander.

Von Birgit Schönau, Rom

In Neapels Altstadt wurden Glocken geläutet und Feuerwerke gezündet, am Flughafen standen mitten in der Nacht 10 000 Fans, um die Mannschaft in Empfang zu nehmen und bis morgens um vier zu feiern. Dazu rituelle Bäder in barocken Brunnen, Hupkonzerte, blockierte Straßen; ein übliches Szenario, wenn die eigene Mannschaft die Champions League gewinnt oder doch wenigstens die Meisterschaft. In Neapel reichte ein 1:0-Auswärtssieg des SSC beim Erzrivalen Juventus in Turin, um die Stadt in den Ausnahmezustand zu versetzen. Und alle, alle machten mit, sogar der Kardinal. "Um Punkt halb neun am Sonntagabend verschließe ich alle Tore, schalte das Handy ab und setze mich vor den Fernseher" verkündete Seine Eminenz Crescenzio Sepe, der als Kirchenfürst durchaus von dieser Welt ist und Juventus im Leben nicht die andere Backe hinhalten würde.

Man mag sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn Napoli tatsächlich Meister wird, erstmals seit 28 Jahren. Gut möglich, dass Kardinal Sepe dann eine Extraprozession mit der Blutreliquie des Stadtheiligen Januarius veranstaltet, angeführt von Kalidou Koulibaly aus dem Senegal. Denn das Tor dieses groß gewachsenen Verteidigers hat Neapel eine Nacht im Paradies beschert und das Rennen um die Meisterschaft noch mal spannend gemacht. Es wird ein Kopf-an-Kopf-Duell werden zwischen Juve und Napoli, es wird gefiebert und geträumt. Vier Spieltage noch, alles wieder offen. Juventus liegt noch vorn, mit einem Vorsprung von einem Punkt.

Nicht auszuschließen, dass die alte Schlange Juve jetzt noch einmal erwacht, nachdem sie gegen die Verfolger allzu träge nur das Versteck gesucht hatte. Die Turiner streben einen sagenhaften siebten Titel in Serie an, Napoli gewann zuletzt 1990, da war Matchwinner Koulibaly, 26, noch nicht geboren. Dass der Hunger der Südländer riesig ist, war in der luxuriösen Arena der Nordmänner von Anfang an zu spüren. Neapel griff an, Juve blockierte routiniert, ohne einen Hehl daraus zu machen, dass man mit einer Nullrunde durchaus zufrieden gewesen wäre, nach all dem Trouble in den letzten Wochen, erst mit den Außerirdischen von Real Madrid (das Last-Minute-Aus in der Champions League) und dann mit den Kellerkindern in Crotone. Dort hatte es am Mittwoch für den müden Vorjahres-Meister nur zu einem 1:1 gereicht, während der SSC nach wochenlanger Durststrecke wieder drei Punkte machte. Die Aufholjagd hatte also schon begonnen und musste in Turin nur fortgesetzt werden.

Napolis Sieg war logisch und gerecht, Stück für Stück konstruiert auf einem Überhang von Ballbesitz und Chancen. Juventus hingegen zelebrierte einen Verwaltungsfußball, "den man zu Trapattonis Zeiten bis zur französischen Grenze ausgepfiffen hätte", wie Gianni Mura enttäuscht fantasierte, der große alte Mann des italienischen Sportjournalismus. Sicher, Giorgio Chiellini hatte nach zehn Minuten verletzt den Platz verlassen müssen, worauf Trainer Massimiliano Allegri den Schweizer Stephan Lichtsteiner einwechselte und Benedikt Höwedes von rechts in die Mitte der Abwehr rückte. Der Ex-Schalker spielte, genauso wie sein Landsmann Sami Khedira, eine unauffällige Partie. Khedira zeigte mehr Temperament, bei einer Rangelei mit Napolis Lorenzo Insigne. Ansonsten war der deutsche Mittelfeldmann wieder einmal ein perfekter Repräsentant der Juve in dieser Saison: bloß nichts übertreiben, nur nichts verschenken.

Tatsächlich mussten die Neapolitaner lange warten, bis die eigene Großzügigkeit belohnt wurde. Es hatte ein Abseitstor von Insigne gegeben, Juves Schlussmann Gigi Buffon hatte sich drei, vier Mal ordentlich strecken müssen, um die frechen Vorstöße des Gegners durch die Turiner Mauer abzuwehren. Und dann, kurz vor Schluss: die Ecke von José Callejon, der Kopfball von Koulibaly. "Als wir zusammen in der dritten Liga waren, nannten wir Maurizio Sarri Mister 33 Freistöße", hatte Allegri über den Kollegen aus Neapel gefrotzelt. Tatsächlich ist Sarri dafür berüchtigt, dass er wieder und wieder Standardsituationen üben lässt.

Jenseits aller Folklore ist das Nord-Süd-Duell am Saisonfinale ein spannender Wettstreit zweier Fußballschulen: Hier der Pragmatismus von Allegri, dessen elegante Chamäleonhaftigkeit allerdings in diesem Jahr allzu oft in müden calcio cinico abdriftete, in zynischen Minimalismus. Und dort die sprudelnde, durchaus rustikale Aggressivität von Sarri, den sie in Neapel auch deshalb lieben, weil er bereitwillig die Lieblingsklischees seiner Tifosi weiterspinnt, die Mär von den armen Underdogs aus dem Süden, die sich endlich für die Unterdrückung durch den Norden rächen wollen. In Turin zeigte dieser Rächer der Zukurzgekommenen den gegnerischen Fans den Mittelfinger und verstreute Perlen der Weisheit. "Sicher repräsentierte Juve die Macht der Technik", nuschelte Sarri etwa, "wenn ihr mich fragt, aber auch noch eine andere Macht." Eine Anspielung auf den Volksglauben, dass der Klub die Agnelli die poteri forti repräsentiere, jene "starken Mächte", die in Italien hinter allem vermutet werden, wofür man selbst nicht so gern die Verantwortung übernehmen möchte, von der Abfallentsorgung bis zur Fußballniederlage. "Hinter meiner Mannschaft steht nicht nur eine Stadt, sondern ein ganzes Volk", sinnierte Sarri denn auch weiter, und ließ im Nebulösen, was er damit meinte: Die Untertanen des Königreichs Zweier Sizilien, dessen Banner immer noch auf der Fantribüne des SSC weht?

Fest steht: Es wird jetzt große Oper gespielt, nachdem Napoli lange die Tabelle angeführt hatte und dann für fast ebenso lange der Juve weichen musste. Süden gegen Norden, Arm gegen Reich, Offensivphilosophen gegen Defensivzyniker, ein Schauspiel, wie es Italien schon lange nicht mehr erlebt hat. Und gerade jetzt, da die Azzurri nicht auf die WM-Bühne dürfen, so dringend braucht.

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