Squadra Azzurra:Die alte Revoluzzertruppe rennt plötzlich um ihr Leben

Squadra Azzurra: Rennen auch noch beim Torjubel wild umher: die Italiener Graziano Pelle (links) und Lorenzo Insigne

Rennen auch noch beim Torjubel wild umher: die Italiener Graziano Pelle (links) und Lorenzo Insigne

(Foto: AP)

Ballbesitz? Pah! Kurzpassspiel? Bloß nicht. Die Italiener finden unter Nationaltrainer Conte zu einem erfolgreichen Fußball, der in keine Klischee-Schubladen passt.

Von Birgit Schönau, Rom

Wenn das Spiel hart wird, fangen die Harten an zu spielen. Es brauchte also ein Achtelfinale gegen Spanien, damit Giorgio Chiellini, einer der ganz großen Rumpelfußballer unserer Zeit, als Matchwinner den Platz verließ. Die spanischen Abwehrkollegen Piqué und Sergio Ramos an die Wand gespielt, obendrauf noch ein cooles Abstaubertor gesetzt, 2:0 gewonnen, Sieg auf der ganzen Linie. Und Chiellini, der nicht erst anlässlich des legendären Schulterbisses von Luis Suarez bei der WM 2014 bewiesen hat, dass er vor allem hart im Nehmen ist, gab nun tatsächlich den Genießer.

"Jetzt fangen wir erst richtig an, jetzt wird es erst richtig schön. Die beiden besten Mannschaften der Welt innerhalb von sechs Tagen!" Montag Spanien, Samstag Deutschland. Im Achtelfinale der Europameister, im Viertelfinale der Weltmeister. Erst die spanische Molekularküche in ihre Moleküle zerlegen, dann her mit den Kartoffeln. Herrlich, oder?

Der Italiener an sich und der Chiellini für sich verbindet den Begriff Trauma nicht spontan mit dem Begriff Fußball. Denn Fußball fällt immer noch in die Abteilung Volks-Unterhaltung, auch wenn diese Form des Amüsements für das Volk allzu oft mit Bangen und Zagen einher geht, wie die letzte Spiel-Viertelstunde im Stadion St. Denis. Aber wozu ist man römisch-katholisch? Erst Leiden, dann Freuden, das steht schon so bei Dante, dessen farbtriefende Schilderungen von Fegefeuer und Hölle in der Göttlichen Komödie so viel interessanter sind als das öde Paradies.

Leiden geht in Ordnung, traumatisiert sind höchstens die anderen. Es ist doch so: Mal heißt der Gegner Spanien, mal heißt er Deutschland, gegen die einen hat man die letzten acht Jahre dauernd verloren, gegen die anderen die letzten 46 Jahre andauernd gewonnen, das 1:4 beim Freundschaftsspiel im vergangenen März mal ausgenommen. "Das hat unserem Selbstbewusstsein ganz schön geschadet", beichtete Antonio Conte, was natürlich übersetzt auch nichts anderes heißt als: "War nur ein Test, Leute. Jetzt zeigen wir denen mal, wo die Glocken hängen." Der Italiener lässt sich von einer Serie von Fußballniederlagen ebenso wenig schrecken, wie er sich eine Siegesserie zu Kopf steigen lässt. Nichts beengt ihn so sehr wie die Rolle des Favoriten, schon aus abergläubischer Vorsicht, vor allem aber, weil man als Favorit nur alles falsch machen kann, als Underdog aber nur gewinnen.

Mit Demut kann man es weit bringen

Denn vom Underdog wird Anpassungsfähigkeit und pragmatische Problemlösung erwartet, in beidem ist Italien Dauer-Champion. Den moralischen Sieg und das schöne Spiel überlässt der Italiener im Zweifelsfall großzügig dem Gegner. Außer, er wird zu beidem gezwungen, wie von den bestürzend unfähigen Spaniern. Deren bodenlose Verwirrtheit verführte Italien zu unerhörten Allüren, und so sah die Welt, wie der römische Mittelfeldterrier Daniele De Rossi seine mit Teletubbies volltätowierten Arme anlegte und lässig Don Andrés Iniesta tunnelte. "Mit Demut kann man es weit bringen", kommentierte der unvergleichliche King Kong Chiellini, "und manchmal sogar ganz gut Fußball spielen." Ob De Rossi, der sich im weiteren Spielverlauf eine Oberschenkelverletzung zuzog, am Samstag einsatzbereit sein wird, war am Dienstag noch unklar. Beim Training war er jedenfalls nicht. Thiago Motta ist gelb-gesperrt, Antonio Candreva ebenfalls verletzt.

Eventuell muss Conte sein Mittelfeld neu erfinden. Wie so oft. Erschüttern wird es ihn kaum. Contes Credo ist eben so einfach wie überzeugend: Ran an die Buletten, Jungs, ihr habt die besten Jahre hinter euch, ich habe sie noch vor mir, denn wenn wir hier fertig sind, dann ziehe ich zum FC Chelsea. Für manche von euch und für mich sowieso ist dies hier das erste und letzte große Turnier. Bei dem wir alles geben. Und dann mal sehen, ob das reicht.

"Deutschland ist die beste Mannschaft dieses Turniers"

Gegen Spanien hat es gereicht, nach minutiöser Vorbereitung und mit einer beeindruckenden Laufarbeit. Die Italiener rannten wie die Hasen - meistens nach vorn. 118 Kilometer absolvierte Contes Team, den Spaniern hing bei den kollektiven 110 Kilometern schon die Zunge aus dem Hals.

Nachher titelten viele Medien, die Italiener hätten "clever" gespielt. Das ist in Deutschland immer zähneknirschend-anerkennend und irgendwie nie ganz positiv gemeint. Denn "clever" ist hierzulande die Zwillingsschwester von "verschlagen", nur dass die eine im Management wirtschaftet und die andere in der Würstchenbude. Natürlich sind die Italiener clever, sonst ständen sie jetzt nicht entgegen aller Voraussagen im Viertelfinale. Aber sie haben sich nicht da hinein gegaunert, sondern eine Einsatzbereitschaft gezeigt, die in keiner Klischee-Schublade zu finden ist. Und ihre Cleverness bestand vor allem darin, dass sie die Erwartungen an vorsichtigen Catenaccio-Fußball nicht erfüllt haben. Das macht sie "unberechenbar wie einen Hammerschlag in einem Salon voller Ideologen", wie am Dienstag der Corriere della Sera schrieb.

Der Fußball-Ideologensalon muss sich nun von Spanien verabschieden. Die italienische Revoluzzertruppe hat die edlen Tiki-Takas hinweg gefegt, und wie das bei Revolutionären so ist, keine Rücksicht auf geschriebene und ungeschriebene Gesetze genommen. Ballbesitz? Pah! Kurzpassspiel? Gilt nicht für uns. Fußball ist Eroberung von Räumen, und die Zeit, da Spanien den Raumbegriff durch sein Ballmonopol einfach aufhob, ist seit Montagabend offenbar abgelaufen. Schnelligkeit, Aggressivität, Anpassungsfähigkeit, darum geht es.

Hinterbänkler gegen Klassenbesten

"Deutschland", sagt Conte, "ist die beste Mannschaft dieses Turniers." Höflicher kann man eine Kampfansage kaum verpacken. Denn wenn das Gesetz der Serie besagt, dass irgendwann Italien gegen Deutschland verlieren muss, genau wie Spanien gegen Italien, so haben diese Azzurri gerade bewiesen, dass sie auf diese Art von Berechnung pfeifen. Sie werden wieder als Außenseiter antreten, als Hinterbänkler gegen die Klassenbesten. Sie werden kämpfen, sie werden rennen, sie werden clever sein. Vor allem werden sie spielen. "Es wird ein Finale", verspricht Antonio Conte. Und vielleicht wird es sogar großartig.

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