Sprint:Powell in Panik

Der Amerikaner Tyson Gay wehrt im 100-Meter-Finale den Ansturm des Weltrekordlers aus Jamaika ab.

Thomas Hahn

Asafa Powell sah genauso aus wie vorher. Vielleicht hätte man seine Miene traurig nennen können, aber in Wirklichkeit hatte sein Gesicht überhaupt keinen Ausdruck. Tyson Gay posierte längst im Sternenbanner vor den Fotografen, wie die großen amerikanischen Sprintsieger es immer tun. Powell gab schon Interviews. Es war, als habe er noch gar nicht begriffen, was passiert war in diesem Finale um den Titel des schnellsten Mannes der Welt. Vielleicht wollte er es auch nicht begreifen. Er war so sicher gewesen, dass er gewinnen würde. Aber jetzt stand er da mit diesem Irrtum, der sich in Zahlen so ausdrückte: 100 Meter in 9,96 Sekunden. Verkrampft in der letzten Phase des Rennens, überholt nicht nur von seinem ärgsten Rivalen Tyson Gay (9,85 Sekunden), sondern auch noch von Derrick Atkins von den Bahamas (9,91), der vorher nur als dritte Kraft galt. Die Wahrheit dieser Nacht schmerzte Asafa Powell, den Weltrekordler. Das Duell war verloren, er hatte seine Landsleute enttäuscht. Er sagte: "Ich habe im Finale einen großen Fehler gemacht."

Es könnte ein Missverständnis entstanden sein um dieses Duell zwischen den beiden schnellsten Männern dieser Saison, Asafa Powell aus Jamaika und Tyson Gay aus den USA, welches die Leichtathletikgemeinde lange mit Spannung erwartete. Das Missverständnis besteht in dem Eindruck, dass dieses Duell zwischen Powell, 24, und Gay, 25, nicht mehr war als der Showdown für ein sensationssüchtiges Publikum. In Wirklichkeit hat es sich bei diesem Duell um den Vergleich zweier Anschauungen gehandelt, um den Ausdruck eines Zeitenwandels und um ein Zeichen, das einem Inselvolk eine neue Perspektive geben könnte. In Jamaika herrschte lange Zeit die Meinung, dass man schon übers Wasser gehen müsse ins große Nachbarland, um etwas werden zu können, weil die Heimat zu eng war und über eine eingeschränkte Infrastruktur verfügte. Und nun gab es diese Geschichte des Pastorensohns Asafa Powell aus Kingston, der nicht glauben wollte, dass er in Jamaika nichts werden könnte, und der im richtigen Moment an einen weiteren Außenseiter geriet. Trainer Stephen Francis, ein übergewichtiger früherer Finanzberater, der seine Trainingslehre aus Büchern und dem Internet zusammengesammelt hatte, sichtete Powell einst nach dem Endlauf seiner Hochschulmeisterschaften, den dieser als Letzter beendet hatte.

Asafa Powell muss lächeln, wenn er an seine Anfänge denkt. "Du siehst die Sprinter, wie sie die Knie heben beim Rennen und die Arme schwingen. Also habe ich das auch versucht. Ich glaube, ich hatte meine Knie so hoch wie meine Augen." Francis hat ihm das ausgetrieben. Auf die Amerikaner mit ihren vielen erfahrenen Trainern an den Universitäten und ihrer ganzen großen Erfolgstradition muss diese Karriere vom Karibikkind zum schnellsten Mann der Welt ziemlich verstörend gewirkt haben. Zumal die Enthüllungen um das Dopinglabor Balco ihr ganzes System in Frage stellten, das vor den Fahndern der internationalen Verbände immer geschützt zu sein schien. Mit leiser Unruhe betrachteten sie, was sich da tat um diesen Jungen aus dem kleinen Land. "Er muss lernen, Meisterschaften zu gewinnen", knurrte noch im vergangenen Jahr der kalifornische Sprintguru John Smith. Doch bevor Amerikas Bester Powell belehren konnte, kam der positive Testosterontest des Olympiasiegers und Weltmeisters Justin Gatlin, der Powells Weltrekord von 9,77 Sekunden eingestellt hatte. Nun sollte eben Tyson Gay versuchen, den Sturm aus Jamaika abzuwehren.

Es hat funktioniert. Die US-Sprintschule hat noch einmal ein großes Turnier überlebt durch einen Mann, der eine klassische amerikanische Sportlerkarriere hinter sich hat - und dazu gehört wohl auch, dass Gays Trainer Lance Brauman ihm an der Universität zu einem Stipendium verhalf, das ihm im Grunde gar nicht zustand; auch deswegen musste Brauman für ein Jahr ins Gefängnis. Als Powell längst Ansätze zum Champion zeigte, galt Gay noch als Hinterbänkler. Bei der WM 2005 gehörte er zu einem Quartett von Amerikanern, das im 200-Meter-Endlauf die vier ersten Plätze belegte. Als Vierter in 20,34 Sekunden. In dem Jahr, als Powell zum ersten Mal 9,77 lief, war seine beste 100-Meter-Zeit 10,08. Es ging alles sehr schnell für Tyson Gay, vielleicht wirkt er deswegen manchmal noch so schüchtern vor seinen Fragenstellern. In diesem Jahr lief er bei den amerikanischen Meisterschaften die 100 Meter in 9,84 Sekunden und in 19,62 die zweitschnellste 200-Meter-Zeit der Geschichte. Natürlich sprach er vom Weltrekord.

Daraus immerhin ist nichts geworden, aber Tyson Gay kann sich jetzt erstmal freuen über seinen neuen Status als jener US-Athlet, der den Aufstand des kleinen Nachbarn niedergeschlagen hat. Gay versuchte tröstlich zu wirken: "Es konnte nur einen Gewinner geben", sagte er, "Ich will, dass die Welt weiß: Wir sind alle Gewinner." Er hatte gut reden. Wahrscheinlich wird er nun auch als 200- und 4x100-Meter-Staffelsieger seine enorme Regenerationsfähigkeit unter Beweis stellen. Und Powell? Der wusste, was die Leute dachten. Der Mann kann mit großen Meisterschaften nicht umgehen. Und für den Moment fehlten ihm die Argumente dagegen. "Ich war panisch am Ende des Rennens", sagte er, "ich habe was falsch gemacht. Tyson hat es richtig gemacht." Dieser dritte Platz war sein bestes Ergebnis bei einer großen Meisterschaft. Aber das tröstete Asafa Powell nicht.

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