Sportpolitik:Ist lebenslang zu lang?

Milde gegen das System, Härte gegen einzelne Athleten: So sahen die Sanktionen des IOC in der russischen Staatsdoping-Affäre aus. Nun klagen 39 Sportler vor dem Internationalen Sportgerichtshof.

Von Johannes Aumüller, Frankfurt

Groß ist der erwartete Andrang, so groß, dass die Justiz die Koffer packt. Normalerweise tagt der Internationale Sportgerichtshof Cas in einem Schlösschen in Lausanne. Aber für seinen größten Prozess der vergangenen Jahre zieht er um: eine knappe Autostunde weiter, ins Kongresszentrum nach Genf.

39 Verfahren sollen dort ab Montag binnen zehn Tagen entschieden werden: die Einsprüche von 39 russischen Sportlern gegen die lebenslangen Olympia-Sperren, die das Internationale Olympische Komitee (IOC) gegen sie verhängt hat. Es ist das vorerst letzte sportjuristische Gefecht im Kontext des russischen Staatsdoping- Systems. Und es geht dabei auch um grundsätzliche Fragen. Etwa die, ob lebenslange Sperren überhaupt zulässig sind.

Sportpolitik: Russland und Olympia – so schön, wie es mal war, wird’s nicht mehr werden: Einmarsch 2014 in Sotschi.

Russland und Olympia – so schön, wie es mal war, wird’s nicht mehr werden: Einmarsch 2014 in Sotschi.

(Foto: Adrian Dennis/AFP)

Detailliert war in den vergangenen Jahren entblättert worden, wie in Russland lange Zeit ein staatlich orchestriertes Dopingsystem existierte. Perfider Höhepunkt: der geheimdienstlich konzertierte Austausch von Urinproben russischer Athleten während der Heim-Spiele von Sotschi 2014. Aus positiv mach negativ. Ende des vergangenen Jahres entschied das IOC über Konsequenzen aus diesem Betrug - und leistete sich dabei einen bemerkenswerten Widerspruch.

Das System kam - trotz aller Beweise - milde davon. Russlands Olympia-Komitee (ROK) wurde für die in drei Wochen beginnenden Winterspiele in Pyeongchang zwar suspendiert, aber es dürfen trotzdem russische Sportler starten - als "Unabhängige Athleten aus Russland". Nach der Vorauswahl, heißt es, könnten das bis zu 200 sein, fast so viele wie 2014 in Sotschi. Und schon zum Ende der Spiele soll das ROK wieder in die Ringe-Familie aufgenommen werden und alle Insignien wie Fahne und Hymne zurückerhalten. Mit anderen Worten: Für jahreslanges Staatsdoping verhängt das IOC zweieinhalb Monate Scheinsperre - eine weiche Sanktion.

Ganz anders sah das mit den einzelnen Athleten aus, die 2014 vom Urin-Tausch profitiert haben sollen. Bei denen war die individuelle Beweislage zwar dünner, aber die Strafe umso höher. Nicht zweieinhalb Monate - sondern lebenslang. 43 Athleten traf der Bann, 42 zogen vor den Cas, die Verfahren dreier Biathletinnen wurden vertagt. Mancher der verbliebenen 39 hat seine Karriere ohnehin beendet; manch anderer aber hofft, nach einem erfolgreichen Entscheid noch rasch nach Pyeongchang zu kommen. Darunter ist etwa Langläufer Alexander Legkow, der prominenteste Klagende. Gänzlich aus der Luft gegriffen ist diese Hoffnung nicht.

Sportpolitik: Präsident Putin und Minister Mutko im Skistadion.

Präsident Putin und Minister Mutko im Skistadion.

(Foto: Alexei Nikolsky/AP)

Es wird jedenfalls kompliziert in den nächsten Tagen. Für jeden der 39 Fälle muss vor dem Cas bewiesen werden, dass er oder sie wissentlich am System beteiligt war - und das ist nicht leicht. Die Fälle sind recht unterschiedlich. Manche waren bereits durch den von der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada eingesetzten Sonderermittler Richard McLaren dokumentiert worden, andere brachte das IOC selbst erst später heran. Bei manchen gibt es an den Urinfläschchen von Sotschi die berühmten Kratzspuren, die auf eine illegale Öffnung hindeuten, bei anderen gibt es nichts dergleichen - was aber nicht zwingend bedeuten muss, dass dort nicht manipuliert wurde. Manche Sportler belastete der Kronzeuge Grigorij Rodtschenkow bei der zuständigen IOC-Kommission konkreter, andere weniger konkret. Der frühere Leiter des Moskauers Anti-Doping- Labors, der aus Angst um sein Leben heute an einem geheimen Ort in den USA lebt, wird vor dem Cas auch als Zeuge aussagen; aus Sicherheitsgründen aber nur per Telefon. "Er weiß, dass die Zukunft vieler sauberer Athleten auf der Kippe steht, denn ohne seine Aussage würden die Olympia-Sperren für russische Athleten sicherlich rückgängig gemacht werden", sagte Rodtschenkows Anwalt Jim Walden der dpa: "Er fühlt sich dazu verpflichtet, das zu Ende zu bringen, was er angefangen hat, und das, obwohl ihm das IOC keinerlei Unterstützung entgegenbringt."

36 Leichtathleten

sind bei einer Hallenmeisterschaft in der sibirischen Stadt Irkutsk kurzfristig abgereist oder angeblich verletzt nicht angetreten - offenbar, weil Dopingkontrolleure aufgetaucht waren. Es soll sich vor allem um Nachwuchssportler handeln. Das berichtete das Sportportal championat.ru - und sorgte in Russland für Aufregung. Normalerweise werden russische Athleten in heimischen Medien nicht des Dopings verdächtigt. Der Verband WFLA kündigte Untersuchungen an. Eine mögliche Flucht vor Kontrolleuren gilt aber per se noch nicht als Dopingvergehen.

Es ist jedenfalls auffällig, wie unterschiedlich die Sportverbände die Beweislage einschätzen. Die meisten internationalen Winter-Föderationen folgen dem IOC und lassen die sanktionierten russischen Sportler derzeit auch im Weltcup nicht starten. Der Anti-Doping-Kommission des Bob- und Rodelverbandes hingegen reichte das bisher Vorgelegte nicht aus: Eine Sperre sei nicht regelkonform und womöglich ein Verstoß gegen internationales Recht. Die Frage nach der individuellen Schuld der Athleten wird einen Großteil der Verfahren ausmachen. Aber in Genf wird auch diskutiert werden müssen, ob das IOC überhaupt einen lebenslangen Spiele-Bann verhängen kann, wenn gemäß Wada-Code die reguläre Strafe für Ersttäter vier Jahre beträgt.

Rio 2016 - Olympische Spiele

Eine Party im Russischen Haus 2016 in Rio.

(Foto: Peter Bauza/dpa)

Das IOC ist in dieser Woche formal in der Rolle des Beklagten. Strategisch ist es in einer komfortablen Situation. Wenn der Cas die Sperren aufrecht erhält, wird das IOC das Urteil als Bestätigung seines angeblich so strengen Kurses in der Russland-Causa darstellen - trotz der Milde gegen das System. Und wenn die Sanktionen gekippt werden, könnten die Vertreter des IOC sagen, dass sie juristische Entscheidungen leider nicht ändern können. Aber dass sie im Anti-Doping-Kampf, wenn sie denn dürften, gerne strengere Maßstäbe anlegen würden als es das Sportgesetz erlaubt. So könnte dann selbst eine formaljuristische Niederlage zur PR-Botschaft werden: Wir wollten die Russen sperren, aber das Cas lässt uns ja nicht!

Nur dürfte sich von einem solchem Ansatz niemand blenden lassen. Denn am Anfang der Geschichte steht ja gerade kein strenges Durchgreifen. Sondern, dass das IOC eben nicht so auf Russlands Staatsbetrug reagierte, wie es zum Beispiel die führenden Anti-Doping-Agenturen gefordert hatten: mit einer klaren Strafe gegen das System. Dann müsste sich der Cas jetzt gar nicht mit den Einzelfällen befassen.

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