Spitzenspiel in Spanien:Rebellion der weißen Taschentücher

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Ronaldo trifft nicht, Trainer Benítez droht die Ablösung, Präsident Pérez wird ausgepfiffen: Im 0:4 gegen Barça bündelt sich die Krisenlage von Real Madrid.

Von JAVIER CÁCERES, Madrid

Wer am Samstagabend im Bernabéu-Stadion bis zum Ende einer Partie ausharrte, die für Anhänger von Real Madrid höchst ungünstig endete, durfte sich unvermittelt an taktische Maßnahmen der philippinischen Polizei erinnert fühlen. Vor ein paar Tagen hatte diese in Manila Proteste ausnahmsweise nicht mit Schlagstöcken erstickt. Sondern akustisch. Sie stellte gigantische Lautsprecher auf und spielten "Roar", ein seichtes Lied der ebenso seichten Sängerin Katy Perry.

Es war genau diese Steilvorlage aus Südostasien, die Real Madrids Bedienstete am Ende des Clásico begierig aufnahmen. Denn kaum hatte der Schiedsrichter die Pfeife in den Mund genommen, um das Ende der Partie zu signalisieren und den erstaunlichen 4:0-Sieg des FC Barcelona in Madrid zu Protokoll zu geben, legte die Stadionregie nicht bloß die Klubhymne auf. Sie zog den Lautstärkeregler derart absurd hoch, dass selbst die Scharfschützen der spanischen Polizei, die zwecks Terrorabwehr auf den umliegenden Hochhäusern postiert waren, einen gehörigen Schrecken erlitten haben müssen. Der Grund für die exorbitante Beschallung: Die Proteste des Fußvolks sollten übertönt werden. Denn nach dem 0:4 gegen den Erzrivalen rebellierten die Madridistas wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr, einhellig forderten sie Klubchef Pérez zum Rücktritt auf: "¡¡¡Florentino, dimisión!!!", riefen sie und schwenkten zum Zeichen der Rebellion weiße Taschentücher. Die Sportzeitung Marca schärft die Guillotine: "Das Bernabeu fordert Köpfe."

Nicht mal nach dem 2:6 von 2009, einer gnadenlosen Vorführung durch Barça, hatte es derartige Proteste gegeben. Gewiss, es gab auch Rufe gegen einzelne Spieler wie Cristiano Ronaldo und das gesamte Team ("Dieses Wappen habt ihr nicht verdient!") sowie gegen Trainer Rafa Benítez, dessen Kredit vollends aufgebraucht zu sein scheint. Weder Fans noch Mannschaft noch Vorstand glauben an den Mann, der ausschaut wie Sancho Panza, aber tragischer wirkt als sein kongenialer Partner, der Ritter von der traurigen Gestalt.

Reals Startelf wurde nach den Preisschildern komponiert

Der authentische Zorn der Gemeinde aber konzentrierte sich auf den Bauherrn Florentino Pérez. Eine Kamera zeichnete auf, wie er den Fans mit Achselzucken antwortete, nach dem Motto: "Stehe ich auf dem Rasen? Bin ich etwa der Trainer?" Doch diesmal dürfte Pérez nicht so leicht davonkommen. Die Madridistas wissen, dass Benítez nun schon der zehnte Coach in zwölf Jahren Pérez'scher Regentschaft ist. Und auch wenn sie ahnen, dass Benítez' Tage gezählt sind - es dünkt ihnen, dass der Fisch vom Kopfe her stinkt.

Die Blicke richteten sich vor allem deshalb gen Präsidentenloge, weil Reals Aufstellung politischer war denn je. Die Startelf wurde nach den Preisschildern komponiert, nicht nach den fußballerischen Notwendigkeiten, es versagten ausnahmslos die Männer des Präsidenten. Der erst eingewechselte, später wegen einer Tätlichkeit vom Platz gestellte Isco wurde wie auch Casemiro und Carvajal anderen geopfert: nämlich Benzema, Modric und Danilo, die zwar außer Form sind, aber als Lieblinge von Pérez gelten. Benítez wurde gefragt, ob er über seine Aufstellung nach sportlichen Kriterien oder auf Basis der Botschaften der Kluboberen entscheide. Ein Dementi formulierte er nicht: "Ich versuche, die Gruppe, die mir zur Verfügung steht, so gut wie möglich zu verwalten."

Seit Samstag weiß auch er, wie viel Luft nach oben ist. Real war heillos unterlegen, obwohl die schillerndste Figur von Barça, der gerade erst von einer Knieblessur genesene Lionel Messi, knapp eine Stunde lang auf der Reservebank saß und dort hübsche Tore bejubeln durfte.

Das erste war ein chorales Werk aus 30 geduldigen Pässen, die in einen herrlichen Außenristschuss von Mittelstürmer Luis Suárez mündeten (11.). Auch die weiteren Treffer durch Neymar (39.), neuerlich Suárez (78.) und Andres Iniesta (53.), der bei seiner Auswechslung sogar mit einer von Feindeshand dargebrachten Ovation bedacht wurde, waren sehenswert und zwangsläufig. "Es war ein perfektes Spiel", sagte Torwart Claudio Bravo, der die wenigen Chancen der Madrilenen, unter anderem vom neuerlich blassen Cristiano Ronaldo, mit großartigen Paraden zunichte machte. Diese entstanden allerdings erst, als das Spiel schon gelaufen war und sich im Stadion das Gefühl einer ungeheuerlichen Demütigung breit gemacht hatte, die zudem eine schwere Hypothek für den Titelkampf darstellt. Real liegt sechs Punkte hinter dem FC Barcelona; mit nur 24 Punkten aus zwölf Spielen verantwortet Benítez Truppe Reals schlechtesten Saisonstart seit der Saison 2005/2006. Auch damals setzte es am 12. Spieltag eine Heimpleite gegen Barça (0:3), kurz darauf wurde Trainer Wanderley Luxemburgo entlassen.

Beim FC Barcelona waren sie bemüht, nicht allzu großspurig aufzutreten. Trainer Luis Enrique gab immerhin zu, dass sich der Sieg beim Erzrivalen anfühle wie "gesegnete Erhabenheit". Niemand aber war glücklicher als die wenigen Barça-Fans, die sich ins Bernabéu gewagt hatten. "¡Florentino, quédate!", riefen sie in einer Mischung aus Ironie und Spott, "Bleib, Florentino, bleib!" Sie feiern, weil der FC Barcelona nie erfolgreicher war als zu Zeiten des Großindustriellen aus Madrid, der Milliarden in die schönsten und teuersten Spieler investiert. Und der dann doch zum Soundsystem greifen muss, um das Volk mundtot zu machen.

© SZ vom 23.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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