Spanisches Duell:Europas Schreckschrauben

Atletico Madrid vs FC Barcelona

Mann des Abends: Antoine Griezmann (links) erzielte beide Tore gegen Barça und ließ die Gegner (hier Piqué, rechts, und Mascherano) ins Leere grätschen.

(Foto: Juanjo Martin/dpa)

Kein Halbfinalist ist so gefürchtet wie Atlético Madrid.

Von Javier Cáceres, Madrid

Das Klischee über die Madrider Fußballklubs besagt, dass im vornehmen Norden ein distinguiertes Opernpublikum den Galácticos von Real zuschaut. Und dass im etwas ärmeren Süden auf Krawall gebürstete Proleten ihr Atlético nach vorn peitschen. Doch so ist das mit den Klischees: Sie stimmen eben doch nur so halb. Und so feierten die Anhänger Atléticos im Estádio Vicente Calderón den Halbfinaleinzug in der Champions League gegen den FC Barcelona, wie das feinste Theaterpublikum ein Ensemble bejubeln würde: Sie harrten lange auf ihren Plätzen aus, klatschten und stimmten dann einen 45 000-köpfigen Chor an, der eine Rückkehr der Darsteller auf die Bühne erzwang: "¡Cholo, sácalos!", "schick' das Team raus, Cholo", hatten sie gerufen, und Atlético-Trainer Diego "Cholo" Simeone tat, wie ihm geheißen.

Es wird in dieser Spielzeit großes Theater geboten im Calderón. Der 2:0-Rückspielsieg gegen den Titelverteidiger Barça, der die 1:2-Niederlage aus dem Hinspiel umkehrte, war die gerechte Belohnung für ein Team, das unter dem seit vier Jahren amtierenden Simeone zu einer Größe geworden ist, die europaweit Schrecken verbreitet. Wenn es ein Team gibt, das wohl alle anderen Halbfinalisten gern vermeiden würden, dann die nervige, rauflustige, hungrige, konterstarke Soldateska des "Cholo". Zum insgesamt fünften Mal zog Atlético in ein Champions-League-Halbfinale ein, zum zweiten Mal nach 2014 warfen sie Barcelona in einem Viertelfinale aus dem Königswettbewerb. Damals gewannen sie übrigens den spanischen Meistertitel, auch in diesem Jahr haben sie bei drei Punkten Rückstand auf Tabellenführer Barça beste Chancen. Ist das heutige Atlético-Team womöglich besser als jenes? "Die Mannschaften, die Meister wurden, sind besser als die anderen. Also ist jenes Atlético besser als dieses", sagte Simeone.

Für den Argentinier war es im achten Anlauf der erste Sieg gegen seinen Kollegen Luis Enrique. Doch damit hielt er sich nur am Rande auf, stattdessen griff er im Pressesaal so tief in die Pathos-Kiste, dass es nur so troff. "Was heute passiert ist, ist viel wichtiger als der nackte Halbfinal-Einzug", sagte der an der Seitenlinie wie stets hysterische Simeone und meinte: Es gehe um "Werte, die in der heutigen Gesellschaft immer seltener sind". "Respekt" erwähnte er, "Beharrlichkeit", "Nicht-Aufgeben", "Wettbewerbskraft" und ähnliche Dinge, die sein Team repräsentiere: "Wir sind eine Gruppe aus Funktionären, Zeugwarten, Fußballern und Fans, die sich in eine Kolonne eingereiht haben. Egal, ob wir gewinnen oder verlieren: Wir glauben an die Werte des Lebens und daran, dass wir sie auf dem Spielfeld darstellen können."

Atléticos Tragödie blieb diesmal aus - dank des Linienrichters

Gegen Barcelona klappte es ganz gut. Der offiziellen Statistik zufolge hatten die Katalanen zwar 76 Prozent Ballbesitz. Doch dieser war vor allem in der ersten Halbzeit von erstaunlicher Wirkungslosigkeit. Barcelonas deutscher Torwart Marc-André ter Stegen, der das Calderón wortlos und grimmig verließ, weil er nun in dieser Saison wegen Barças Torwart-Rotation nur noch ein Spiel, das Pokalfinale, bestreiten wird (in der Liga steht Claudio Bravo im Tor), dieser ter Stegen also hatte in der ersten Halbzeit mehr Ballkontakte als Lionel Messi. Barcelonas Trainer Luis Enrique hatte in Erwartung einer stürmischen Atlético-Mannschaft ein Maximum an Sicherheitspässen angeordnet. Das änderte sich erst in der zweiten Halbzeit, als es bereits 0:1 stand - und Barcelona kommen musste. Atlético hatte in der 36. Minute zugeschlagen: Antoine Griezmann traf nach einer wunderbaren Außenristflanke von Saúl von der rechten Seite sehenswert per Kopf - unhaltbar. Griezmann traf später auch zum 2:0 (82.). Per Handelfmeter.

Auf der anderen Seite blieb Messi nicht nur im fünften Spiel in Serie ohne Torerfolg - eine beispiellose Serie in der Vita des 28-jährigen Argentiniers -, sein Spiel war lauer als der Abend. Spanische Medien berichten unter Berufung auf das Umfeld Messis, die Nummer 10 kämpfe "seit Wochen" mit muskulären Problemen, der Klub bestreitet dies, Trainer Luis Enrique nahm ihn in Schutz: "Es wäre ungerecht, auf Einzelne einzugehen", sagte er, als er auf Messis Flaute angesprochen wurde. Auch die Gründe für den offenkundigen Leistungsabfall Barças, das bis zum 13. März atemberaubende 39 Spiele ohne Niederlage aneinandergereiht hatte, behielt er für sich: "Es gibt Tage, an denen die Sonne scheint, und Tage, an denen es regnet." Nur das Offenkundige gestand er ein: "Dies ist nicht unsere beste Version." Doch das liegt nicht zuletzt daran, dass Messi der Prototyp des "ansteckenden Spielers" ist, wie El País schrieb - im Guten wie im Schlechten. Die Sturmreihe Messi, Suárez, Neymar, die seit letztem Jahr zusammen 231 Tore geschossen hat, wirkte abwesend.

Daher bestätigte sich das ungeschriebene Gesetz, wonach ein Champions-League-Sieger seinen Titel nicht verteidigen kann. Umgekehrt überwand Atlético die Legende, wonach der Klub immer in letzter Sekunde noch eine Tragödie erleidet, siehe 1974, als Schwarzenbeck im Finale des Europapokals der Landesmeister ein Wiederholungsspiel erzwang, und 2014, als Sergio Ramos von Real Madrid per Kopf eine Verlängerung (und die Niederlage) herbeiführte. Diesmal wendete sich das Schicksal in der letzten Minute zum Guten: In der 90. Minute pfiff der Schiedsrichter ein Handspiel von Atléticos Kapitän Gabi - und verlegte, nachdem er erst auf den Elfmeterpunkt gezeigt hatte, das Geschehen vor den Strafraum. Der Linienrichter hatte ihn korrigiert - und lag damit falsch. Messi trat an und jagte den Ball übers Tor, was ein grandioses Schauspiel aus wild geschwenkten rot-weißen Atlético-Schals ermöglichte.

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