Spaniens Demontage bei der WM:Wenn die Seele verloren geht

Andres Iniesta

Am Boden: Andres Iniesta

(Foto: AP)

Gegen die Niederlande erlebt die spanische Nationalmannschaft ein epochales Desaster, selbst Trainer del Bosque verliert die Fassung. Der Weltmeister wirkt ausgelaugt und hölzern - einige prophezeien, eine Ära könnte nun bereits in der Vorrunde enden.

Von Thomas Hummel, Salvador

Hat die Fußballwelt am Freitagabend in der Arena Fonte Nova zu Salvador da Bahía die Dämmerung eine Ära gesehen? Ist die Generation "Xavinesta" für immer untergangen im Konterwirbel der Niederländer? Droht den Spaniern bei der Fußball-WM womöglich ein ähnliches Debakel wie den Franzosen 2002, die ebenfalls als Titelverteidiger in der Vorrunde ausschieden?

Vicente del Bosque hat die Eigenschaft, sich im größten Sieg wie in der schlimmsten Niederlage äußerlich kaum zu verändern. Diesmal aber, da war die Blässe im Gesicht des Trainers aus Salamanca unübersehbar. 1:5 zum Auftakt der Gruppe B gegen die Niederlande. Am Ende hätten noch mehr Gegentore fallen können. Del Bosques Mannschaft erlebte ein solch epochales Desaster, dass selbst del Bosque hier und da die Fassung verlor.

"Es ist kein glücklicher Moment, ich fühle mich sehr schlecht, ich bin sehr enttäuscht", sagte der 63-Jährige. Fünf Gegentore - wie konnte das nur passieren? "Ich finde keine Worte, um das zu erklären. Wir waren nie ein defensives Team, aber wir haben immer gut verteidigt."

Verteidigen konnten die Spanier wahrlich. Es war das Fundament ihrer Erfolge. Seit der WM 2006 haben sie in K.-o.-Spielen bei EM oder WM kein Gegentor mehr bekommen, zum Titel in Südafrika 2010 gelangten sie mit vier 1:0-Erfolgen in den Ausscheidungspartien. Am Freitag in Salvador aber lupften, schossen, drückten und hämmerten ihnen die Holländer den Ball in die Maschen, dass einem schwindlig werden musste.

Dabei war die erste Halbzeit noch gelaufen wie immer. Xavi auf Iniesta auf Busquets auf Xabi Alonso auf Silva und das Ganze wieder zurück bis irgendwann mal einer frei stand. Tausendmal gesehen, tausendmal geübt, tausendmal zum Sieg geführt. Diego Costa stieg auf das Bein des daher rutschenden Ron Vlaar und ging zu Boden, der Schiedsrichter ahndete es mit Elfmeter, den Xabi Alonso sicher verwandelte (27.). David Silva vergab die glasklare Chance auf das 2:0. Was sollte noch schief gehen gegen die limitierten Niederländer?

Es ging alles schief. Es ging so dermaßen schief, dass die Zeitung El Periódico stellvertretend schrieb: "Spanien verlor mehr als nur ein Spiel. Die Nationalelf hat die Begeisterung, die Spielkultur, den Stil und die Seele verloren."

Der Kopfball-Lupfer von Robin van Persie kurz vor der Halbzeit gab dem Gegner extra-vangaalsche Kräfte und entzog den Spaniern jede Energie. So eine zweite Halbzeit dürften die insgesamt sieben auf dem Platz stehenden Spieler des FC Barcelona noch nie erlebt haben. Die drei von Real Madrid erinnerten sich vielleicht düster daran, dass ihnen der FC Barcelona mal fünf Stück eingeschenkt hatte. Aber das ist lange her.

"Es war ein harter Schlag für uns heute", erklärte Xabi Alonso. "Sie haben sich sehr gut vorbereitet, wussten, wie sie uns weh tun können." Die Niederländer trieben den Gegner stets aus der geliebten Mitte des Spielfelds an die Ränder, wo die Spanier sich ungern aufhalten.

Als nach der Pause eine Konterwelle nach der nächsten lief, bemerkte die überraschte Fußballwelt ein Nachlassen in Kondition und Konzentration. Vor allem die Innenverteidigung mit Gerard Piqué und Sergio Ramos wirkte ausgelaugt und hölzern und war den agilen Van Persie, Arjen Robben und Wesley Sneijder chancenlos ausgeliefert. In ihrer Verzweiflung bolzten sie alsbald den Ball über den Rasen, dass die Kinder der angrenzenden Favela sie beim Kicken auf der Straße aus der Mannschaft geworfen hätten.

"Ein Resultat der Schwäche aller"

Piqués und Ramos' Turbulenzen waren auch eine Reaktion darauf, dass die Mittelfeldreihe vor ihnen mit Xavi, Sergio Busquets und Xabi Alonso die gewohnten Schutzmaßnahmen unterließ. Das gesamte, hoch dekorierte aber teils in die Jahre gekommene Zentrum der Spanier warf die Frage auf, ob es physisch noch reicht für diese WM. In Salvador war es zwar nicht besonders heiß, doch die Luftfeuchtigkeit ließ bei Europäern den Schweiß schon im Sitzen rinnen.

"Ich glaube nicht, dass Physis ein Problem ist", sagte del Bosque tapfer. Zuvor war Kollege Louis van Gaal der Wahrheit wohl etwas näher gekommen: "Die spanische Meisterschaft dauert sehr lange und ist die stärkste der Erde. Fast alle Spieler haben Pokale gewonnen und viele Partien absolviert." Soll heißen: Die Spanier mit ihrer hoch intensiven Saison, dem Endspiel um die Meisterschaft zwischen Barcelona und Atlético Madrid sowie dem Champions-League-Endspiel der Madrider Vereine, können gar nicht auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft nach Brasilien gereist sein.

Tragisch wurde der Abend für Torwart Iker Casillas. Bei Real darf er nur noch bei Pokalspielen ins Tor, die Selección führt er aber als Kapitän aufs Feld. Dem unerhörten Kopfball von van Persie schaute er machtlos hinterher, beim 1:3 wurde er im Fünfmeterraum klar gefoult. Dann sprang ihm der Ball zu weit weg und van Persie durfte wieder einschießen. Beim letzten Gegentreffer von Robben krabbelte er über den Rasen wie ein Baby auf der Suche nach seinem Kuscheltier.

Nach der Partie musste del Bosque sogleich die Frage beantworten, ob dieser Casillas noch tragbar sei. Doch der Mann mit dem Schnauzer ist ein Ehrenmann, der niemals öffentlich einzelne Spieler kritisiert: "Es ist nicht angebracht, jetzt einen Schuldigen zu suchen. Wenn eine Mannschaft ein Spiel verliert, passiert es niemals nur wegen eines Spielers. Es ist ein Resultat der Schwäche aller."

Dennoch wird der Trainer bis zum kommenden Mittwoch Antworten finden müssen. Im Maracanã zu Rio de Janeiro erwartet den Titelverteidiger ein Endspiel um den Turnierverbleib. Und Gegner Chile hat zwar gegen Australien Schwächen gezeigt, ist aber eine ebenso fitte wie unangenehm zu spielende Mannschaft wie Holland.

Nun hat del Bosque wahrlich keinen Mangel an qualifiziertem Ersatz. Auf der Ersatzbank im Fonte Nova saßen zum Beispiel Javi Martínez vom FC Bayern, Koke von Atlético Madrid oder Juan Mata von Manchester United. Pedro Rodriguez verdeutlichte nach seiner Einwechslung, dass er selten müde ist, selbst für das Tor hätte der Trainer mit David de Gea eine erstklassige Alternative. Das Sportblatt Marca, die meistgelesene Zeitung des Landes, schrieb: "Wenn jetzt keine Umstellung kommt, kann Spanien bald nach Hause fahren."

Doch kann del Bosque binnen weniger Tage die über Jahre gewachsene Hierarchie der Mannschaft austauschen? Ist der Schock so groß, dass er den vor der WM verpassten Wandel nun per Ad-hoc-Therapie verfügt? Noch will er seine alte Garde nicht fallen lassen: "Wir haben eine Mannschaft mit sehr professionellen Spielern. Als wir in die Kabine gingen, hatten wir ein Gespräch, das sehr positiv war für uns alle."

Und Xavi sagte Richtung Heimat: "Ich bitte die Menschen, uns am Mittwoch zu unterstützen. Wir wollen demonstrieren, dass diese Mannschaft Lust hat, ihre Pläne zu verfolgen."

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