Skispringer Andreas Wellinger:Über einen Draufgänger, der gereift ist

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Ein Sturz, der lange nachgewirkt hat: Andreas Wellinger beim Weltcup-Springen in Kuusamo im vergangenen November. (Foto: Heikki Saukkomaa/AFP)
  • In Kuusamo findet am Wochenende der zweite Wettbewerb des Skisprung-Weltcups statt.
  • Der deutsche Andreas Wellinger stürzte im vergangenen Jahr auf jener Schanze.
  • Mit mentaler Aufarbeitung hat Wellinger zu neuer Stabilität gefunden.

Von Volker Kreisl, München

Gestaunt wird immer am Anfang. Alles mögliche ist neu beim Weltcup-Start der Skispringer, neue Bindungen, neue Anzüge und diesmal erschien auch ein neuer Wellinger - ein Nachfolger für den Ruhpoldinger Andreas Wellinger. Der war vor drei Jahren als ein Springer auf der Bildfläche erschienen, der keine Angst kennt, wie sein Trainer Werner Schuster es einmal ausdrückte, und genau so präsentierte sich nun der Slowene Domen Prevc.

Zuschauer und Experten staunten in Klingenthal also darüber, wie aggressiv dieser Neuling abspringt, wie schnell er ins Flugsystem wechselt, wie weit unten er landet. Domen Prevc ist erst 16 Jahre alt, wie damals Wellinger. Doch der Deutsche ist mittlerweile 20, und er ist einen großen Schritt weiter gekommen. Er kennt jetzt die Angst.

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An diesem Wochenende kehrt Andreas Wellinger nach Kuusamo zurück. Der zweite Weltcup-Wettbewerb der Saison findet dort statt, seit der Weltverband die Auftakt-Veranstaltung nach Deutschland verlegt hatte. In Kuusamo ist es dunkel und oft auch windig, und es ist der Ort, an dem die Springer nach dem ersten Formtest mit wachsendem Selbstbewusstsein und Ehrgeiz antreten. Vor einem Jahr war Andreas Wellinger in Klingenthal zunächst Dritter geworden, dann ging er in Kuusamo in die Spur, um sich wie immer auf dem Luft- polster zu Tale tragen zu lassen, aber plötzlich war das Polster weg.

Das Risiko zu erkennen und zu beherrschen

"Angst" ist im Sport ein ungehöriges Wort. Es wird derart reflexartig weggewischt und durch das Wort "Respekt" ersetzt, dass man glauben könnte, Athleten hätten Angst vor dem Wort Angst. Es geht immer darum, das dunkle Risiko zu erkennen und auch zu beherrschen, also Furcht oder Sorge oder Respekt zu entwickeln, aber nicht Angst. Alle haben dieses Prinzip verstanden, doch tatsächlich braucht es Jahre, um es umzusetzen, und viel Erfahrung, wenngleich nicht unbedingt so eine wie sie Wellinger in Kuusamo machte.

Er war ein wenig zu spät abgesprungen, schaltete schnell in die Flughaltung um, bekam dann aber zu viel Luft unter die Skier. Der linke schlug aus, Wellinger öffnete die Flugposition und fiel fast vom höchsten Punkt der Kurve rücklings auf den Hang. Er blieb bei Bewusstsein und machte sich sichtlich geschockt breit, um sich beim Abrutschen nicht auch noch zu überschlagen. Die ersten Befürchtungen bestätigten sich zum Glück nicht. Wellinger trug im Wesentlichen nur Prellungen und eine Schulterverletzung davon, aber die Saison musste er völlig neu planen.

Seine Laufbahn hatte bis dahin ja immer steil nach oben geführt. Mit 16 wurde er Jugend-Olympiasieger im Team, mit 17 gewann er bei der Junioren-WM Team-Bronze, mit 18 holte er seinen ersten Weltcupsieg bei den Erwachsenen und kurz darauf wurde er in Sotschi Team-Olympiasieger. Im Sommer 2014 nahm ihn dann der große Schokolade-Sponsor unter Vertrag, was ihm alle einerseits gönnten, und andererseits mit der Hoffnung verbanden, dass ihn die Vermarktung und die große Öffentlichkeit nicht aus dem Gleichgewicht bringe. Denn jetzt war er auch optisch in die Spur des alten Weltmeisters Martin Schmitt gekommen.

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Aber diese Sorge war wohl unbegründet. Erfolgs-Erwartungen scheinen Wellinger nichts auszumachen, eher eine ungeplante lange Pause. Er arbeitete sich im Dezember 2014 ähnlich gezielt und kompromisslos zurück, wie er springt, er stand entgegen den Prognosen schon im Januar wieder auf der Schanze und führte das Junioren-Team zu WM-Medaillen. Und trotzdem war diese Zeit eine Zäsur, sagt Trainer Schuster. Wellinger selber erklärt: "Ganz vergessen kann man diesen Sturz nicht."

Das Ungestüme weicht der Stabilität

Schuster hat die Erfahrung gemacht, dass so ein heftiger Sturz wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung sein kann: "Da verliert man ein bisschen das Ungestüme, das raubt dir die Unschuld." Junge Menschen glaubten ja oft, sie seien unverletzlich und stürzten sich dann über die Schanze hinaus, hat Schuster festgestellt: "Andreas musste das schmerzhaft erfahren, dass das nicht an jedem Tag zu jeder Tageszeit geht." Wellinger springt also nicht mehr so ungestüm wie gerade der Slowene Domen Prevc, der junge und unbekümmerte Bruder des Vierschanzen-Favoriten Peter Prevc. Wellinger sagt jetzt: "Mein Sprung ist stabiler geworden. Das ist auch wichtig, weil man dann bei allen Bedingungen besser durchkommt und weniger Ausschläge nach oben und unten hat."

Im vergangenen Winter war er ein bisschen von der Bildfläche verschwunden, doch es war kein verlorenes Jahr. Die Unschuld ist jetzt zwar weg, aber das Vertrauen haben sie gemeinsam Stück für Stück zurück geholt - mit "mentaler Aufarbeitung", wie Schuster sagt, "aber immer in Kombination mit der Schanze, um wieder die alte Sicherheit zu kriegen".

Ein Jahr nach seinem Sturz wird Wellinger also wieder oben sitzen, auf dem Balken von Kuusamo. Und genau genommen kennt er jetzt nicht die Angst, sondern die Gefahr, wenn er sagt, dass er ganz gut vorbereitet sei: "Ich weiß, wie ich reagieren muss auf die Situation, die kommt."

© SZ vom 26.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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