Skispringen:Um die Wette mit der Vernunft

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Schwere Stürze machen einsam - dennoch hat sich Alexander Herr nach seinem Kreuzbandriss eilig ins Weltcup-Geschäft zurückgekämpft.

Thomas Hahn

Wieder beginnt dieses Spiel, das eigentlich ernst ist, und der Wind pfeift dazu, dass es keine Freude ist. Die ersten Trainingstage am Bakken von Kuusamo in Finnlands Norden waren hart, die Skispringer mussten wachsam sein, denn die Böen waren tückisch.

Geht es abwärts oder aufwärts? Der deutsche Skispringer Alexander Herr. (Foto: Foto: dpa)

Es gab Stürze, der Betrieb stockte, und jetzt schon ist klar, dass die Jury nicht zu sorglos sein darf, wenn dort am Freitag das erste Weltcup-Springen der olympischen Saison stattfindet.

Zu viel Mut ist so fehl am Platz wie zu viel Nachdenklichkeit, nach diesem Gesetz dürfen die Skispringer nun abwägen, ob sie dem Schiedsgericht vertrauen, das ihnen das Zeichen zum Start gibt.

Es ist ein Spiel mit Risiko, aber auch eines, von dem man nicht so leicht loskommt. Alexander Herr lächelt. Er hat schlechte Erfahrungen gemacht, aber er sagt: "Ich hab mich jetzt erstmal fürs Mitspielen entschieden."

Vernunft, Geschäft und Leidenschaft

Die Geschichte des Skispringers Alexander Herr aus Schonach ist ein bisschen kitschig, aber sie ist von dieser Welt und deswegen viel wert.

Sie erzählt vom Dreikampf zwischen Vernunft, Geschäft und Leidenschaft, von Einsamkeit im Zirkus der Athleten, von Trotz und Liebe, und es könnte sein, dass viele in der Skisprungszene sie gar nicht so gerne hören.

"Ja natürlich", sagt Bundestrainer Peter Rohwein, wenn die Sprache auf Alexander Herr kommt, auf dessen schweren Sturz im Februar-Sturm von Willingen, dessen Kreuzbandriss mit Knorpelschaden vierten Grades und Meniskusabriss, dessen besessenen, erfolgreichen Kampf ums Comeback im Weltcup-Team.

"Ja natürlich", sagt Rohwein also, "es ist 'ne Riesenverletzung gewesen, aber das soll man jetzt auch nicht so in den Vordergrund stellen." Rohwein mag es nicht, wenn Einzelschicksale von seiner Mannschaft ablenken.

Und andere mögen es nicht, wenn sie durch Herrs Geschichte daran erinnert werden, dass selbst im Fernsehsport nicht alles im Griff ist. Herr selbst im übrigen auch nicht. Schließlich ist es auch sein Geschäft. Er sagt: "Ich tret' jetzt da nicht mehr nach."

Aber es war eben schon das zweite Mal, dass sein Kreuzband riss, weil er in einem Moment sprang, in dem er besser nicht gesprungen wäre. Zum ersten Mal vor der WM 1999 in Ramsau, als er bei der deutschen Meisterschaft in Oberwiesenthal mit Christof Duffner den freien Platz im WM-Team ausspringen sollte.

Herr sah im zweiten Durchgang, dass die Sätze der schwächeren Springer zu weit gingen, er dachte: Der Anlauf ist zu lang. Die Jury reagierte nicht. Er stürzte. Später gewann Duffner WM-Gold im Team.

Sechs Jahre später war Alexander Herr quasi schon gesetzt für die WM in Oberstdorf, beim Weltcup in Willingen hatte Rohwein ihn für den Mannschaftswettbewerb nominiert.

Sturz und Tränen

RTL übertrug live, wild tanzte der Wind um den Mühlenkopf. Der Wettkampf wurde zur Farce, Herr dachte, er würde abgebrochen, bis er auf dem Startbalken saß und die Ampel auf Grün schaltete. Sturz und Tränen.

Danach sagten viele, Herr sei wegen eines Fehlers so schwer gestürzt. Herr wehrte sich. Es gab Debatten, aber er wusste, dass er dabei offiziell keine Mehrheit bekommen würde. Er stand allein gegen die Lobby, und weil er selbst zur Lobby gehörte, fügte er sich.

Herr sagt: "Wenn so 'ne Saison mit Olympia vor der Tür steht, dann hat man keine Zeit." Also erklärte er seinen Ärzten und Physiotherapeuten, dass die Genesung diesmal kürzer dauern müsse als jene sechs Monate, die ihn sein erster Kreuzbandriss aufgehalten hatte.

Am Freitag nach dem Unfall wurde er operiert. Am Sonntag kam er aus dem Krankenhaus. Am Montag nahm er die Arbeit auf. Er humpelte auf Krücken zum Ergometer und fing an zu strampeln.

Bis zu drei Stunden am Tag, 1500 Kilometer in sechs Wochen. Die folgenden vier Monate verbrachte er mit Radfahren und Rehabilitation, danach begann das spezifische Athletiktraining.

Fünf Monate nach der Operation sprang er zum ersten Mal wieder, auf der kleinen Schanze von Furtwangen. Und im August stand er beim Sommer-Grand-Prix in Hinterzarten in der deutschen Mannschaft. Es ging alles sehr schnell. "Klar", sagt Alexander Herr, "es ist schon ein kleines Wunder."

Professioneller Pragmatiker

Er stand schon immer im Ruf, sehr hart gegen sich selbst zu sein, nun kann er sein Image noch besser pflegen. "Klar muss man das auch ein bisschen als Marketinginstrument nehmen", sagt er, "es ist ja nicht nur Show, das ist ja was Reelles. Einmal mehr aufstehen, als man hinfällt, das steht ja nicht nur so da. Ich leb' das ganze auch."

Der Sturz traf ihn schwer, jetzt will er wieder der professionelle Pragmatiker sein, der unverdrossen an seine Siegchance glaubt. In der vergangenen Saison stand er teilweise als bester Deutscher da und sah sich bestätigt in seiner Rolle als ewig unterschätzter Kämpfer. Jetzt sagt er: "Ich hab' mir die intensive Reha nur angetan, um wieder ganz vorne dabei zu sein."

Der Schmerz ist vergangen, und im nachhinein könnte Herr sogar sagen, dass diese Geschichte ihn beruflich weitergebracht hat. Der Unfall hat seine Popularität gesteigert, noch im Februar knüpfte er Kontakte zu einer neuen Marketingagentur, die prompt einen neuen Sponsor für ihn fand. Nur die Mechanismen seines Sports hat er nicht aufbrechen können.

Dazu ist seine Tragödie dann doch zu klein gewesen, außerdem stellt er sich ja nun selbst wieder in die Manege. "Irgendwo ist es 'ne Leidenschaft", sagt er. Er will milde sein, wenn er es nicht wäre, müsste er aufhören, so einfach ist das beim Skispringen. "Die Verantwortlichen haben immer einen Ausweg, und der heißt Athletenerklärung. Das muss ich dann auch akzeptieren", sagt Herr.

"Wenn du der Meinung bist, das ist zu gefährlich, dann hast du die Entscheidungsfreiheit runterzugehen." Wobei er das Wort Entscheidungsfreiheit in Anführungszeichen gesetzt sehen will, denn natürlich ist kein Athlet wirklich frei.

Frei ist nur der Wind, und genau das ist ein bisschen das Problem beim Skispringen.

© SZ vom 25. November 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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