Skispringen:Schnäuzer im Aufwind

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Bestweite, zweiter Saisonsieg: Richard Freitag ist nach Oberstdorf gezogen und trainiert in einem neuen Umfeld - offenbar die richtige Entscheidung.

(Foto: DeFodi/imago)

Richard Freitag bestätigt seine bestechende Form und gilt mit DSV-Kollege Andreas Wellinger als Favorit für die Vierschanzentournee. Dem Movember-Bart sei dank?

Von Volker Kreisl, Titisee-Neustadt/München

Die sogenannte Movember-Bewegung, die die Vorsorge von Männer-Krankheiten anmahnt, hat gerade einen guten Werbe-Träger - vielleicht ist es der effektivste überhaupt. Die Initiative fordert unter anderen berühmte Sportler dazu auf, sich im November einen Schnäuzer wachsen zu lassen - und wer könnte da mehr Wirkung erzielen als ein Skispringer? Ein Individualsportler also, der nicht in der Masse eines Teams untergeht, sondern ganz alleine oben auf einem Querbalken sitzend herangezoomt wird? Dessen Gesicht von Helm, Spiegelbrille und Kragen derart stark überdeckt ist, dass man nichts anderes mehr sieht als den Schnäuzer?

Noch wirksamer als irgendein Skispringer ist der weltweit führende Skispringer.

Zuschauer in vielen Ländern konnten also in den vergangenen Wochen im Fernsehen verfolgen, wie Richard Freitags Moustache entstand: Zum Saisoneinstieg in Wisla/Polen war es noch eher zarter Flaum, Freitag landete da auf Rang vier. In Kuusamo/Finnland wurde er eine Woche später Sechster, wiederum eine Woche drauf, in Nischni Tagil/Russland begeisterte der Mann vom Skiclub Aue in Sachsen vor allem die deutschen Zuschauer - mit einem Sieg, zudem tags darauf mit einem zweiten Platz und jeweils einem Schnäuzer, der diese Bezeichnung nun auch verdiente. Richard Freitag ist seitdem der, der als Letzter noch auf dem Balken oben sitzt, der Weltbeste, auf den alle warten. Auch am Sonntagabend, in Titisee-Neustadt im Hochschwarzwald, wo er mit der Tagesbestweite den zweiten Saisonsieg feierte.

Außer der guten Sache, der Movember-Bewegung, profitiert natürlich auch der Deutsche Skiverband von Freitags Frühform. Dieser steht an der Spitze eines größeren Aufschwungs, das Springerteam spornt sich gerade selber erfolgreich an. Andreas Wellinger (Ruhpolding) ist seit Wochen in ähnlich starker Verfassung. Die beiden gelten nun als Favoriten für die Vierschanzentournee. Wellinger landete in Titisee nur 2,4 Punkte hinter Freitag (128,4) auf Platz zwei, im Gesamtweltcup haben die beiden mittlerweile schon einen deutlichen Vorsprung. Daniel Andre Tande aus Norwegen folgt als Dritter mit 39 Punkten Abstand auf Wellinger, auf Freitag sind es sogar 90 Zähler. Die anderen im Team lassen sich mal mehr, mal weniger mitreißen, diesmal kam der Debütant Constantin Schmid, 18, auf Platz acht. Markus Eisenbichler dagegen, eigentlich der Drittstärkste, ließ in Titisee etwas nach, am Ende war er Zwanzigster.

Profitiert hatten die letzten fünf des Wettbewerbs auch von den wechselnden Bedingungen, und von der Tatsache, dass dieses Springen nach heftigem Schneefall und starkem Wind mit nur einem Durchgang über die Bühne gebracht wurde. Rechtzeitig hatte der Wind gedreht von starken Rückenböen - auf milde Aufwärts-Luft. Andererseits ist es wohl weniger der reale Aufwind, auf dem Freitag und Wellinger zurzeit schweben, als der im übertragenen Sinne. Sie haben ihr System aus Technik und Material perfekt eingestellt, und damit das Urvertrauen für den richtigen Absprung. Oder, wie Wellinger am Sonntag sagte: "Wenn man in Form ist und das richtige Gefühl hat, kann man locker losspringen. Und das ist meistens am besten." - "Was im Moment passiert, ist einfach unglaublich", sagte Freitag, was wohl nicht so oberflächlich ist, wie es klingt, vielleicht lassen sich die unbewussten mentalen Vorgänge eines Flows auch nicht anders schildern.

Freitag/Wellinger haben für den DSV die ersten beiden Skisprung-Doppelsiege nacheinander seit 27 Jahren errungen. 1990 gewannen Dieter Thoma und Andre Kiesewetter zweimal nacheinander in Sapporo. Neben einer Reihe versteckter und geheimer Details in der Sprungtechnik hat Richard Freitag auch eine recht simple Erklärung für seine erstaunliche Performance. Denn der 26-Jährige hatte im Herbst erstmals seinen Heimat-Stützpunkt hinter sich gelassen, und ist für den Winter zu den Kollegen nach Oberstdorf gezogen. Am Training in Oberwiesenthal/Sachsen habe es nicht gelegen, sagt Freitag, er ahnte aber, dass ihm eine Veränderung guttun würde. In Oberstdorf muss er sich neu organisieren, womit schon viele Top-Sportler den alten Trott hinter sich ließen, außerdem hat er geringere Reisedistanzen, kann sich täglich mit den besten Deutschen messen - und kommt auf neue Ideen.

Zum Beispiel auf den Novemberbart. Insgesamt muss man die Interpretation von dessen Wirkung nicht übertreiben. Etwa zu sagen, "mit dem Bart wuchs sein Selbstbewusstsein", ist natürlich Aberglaube. Andererseits? Es ist ja schon Dezember und der Bart ist immer noch dran und Freitag sagt, so bleibe es auch: "Warum eigentlich nur einen Monat im Jahr auf die Gesundheit hinweisen?"

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