Skispringen:Auf dem Weg in die Luft

Lesezeit: 5 min

Skispringen sieht so einfach aus, doch die Schanzen haben ihre eigenen Gesetze - wie Kinder das Fliegen lernen. Von Thomas Hahn

Im Wald wacht still der Turm, blickt stolz auf Hinterzartens Dächer und bewahrt sein Geheimnis mit ewiger Geduld. Und die Kinder im Ort schauen von Zeit zu Zeit hinauf und fragen sich, was man wohl da oben finden kann. Einen Weg ins Glück? Die Pforte zum Himmel? Sie kennen die mutigen Männer, die dort hinaufgehen mit geschulterten Ski, sich in die Rinne drücken, die vom Turm ins Tal führt, in die Luft schnellen und wie von einer unsichtbaren Hand getragen den Hang entlangsegeln, hundert Meter weit an guten Tagen. Und sie kennen den Ruhm, den die Vorbilder dieser Männer sammelten, die berühmtesten Kinder Hinterzartens, Georg Thoma, Olympiasieger der Kombination 1960, sein Neffe Dieter, vor 14 Jahren Gewinner der Vierschanzentournee, und der unnachahmliche Flieger Sven Hannawald, der immer noch hier, auf der Adlerschanze, seine Kunst verfeinert. Von deren Bahnen träumen die Kinder, doch der Weg dorthin ist weit, viel weiter, als es die schmale Treppe zum Turm vermuten lässt. Gert Hübner zeigt durchs Fenster in den Himmel. Und er sagt: "Um auf so 'ne Schanze raufzukommen, muss ich etwa acht Jahre trainieren."

Gert Hübner, 41, ist früher selbst von solchen Schanzen geflogen, vor der Wende war das, in Oberwiesenthal. Er kennt die Schönheiten des Springer-Daseins, und er hat sie genossen, bis die Sportführung der DDR ihn mit 20 aussortierte, weil er nicht genügend Talent besaß. Heute ist er Stützpunkttrainer beim SC Hinterzarten, zuständig für den Nachwuchs, und jetzt sitzt er zusammen mit Sven Mundinger, 24, einem seiner Übungsleiter, im Café des ehrwürdigen Hotels Adler und erklärt, wie eine Sportlerkarriere beginnt, die eines Tages auf den Turm der Adlerschanze oder noch höher hinauf führen soll. Wie man also Kindern das Fliegen beibringt.

Das ist nicht einfach, und die Arbeit beginnt meistens damit, dass die Trainer falsche Vorstellungen bekämpfen müssen. Skispringen sieht so einfach aus. Anfahrt, Absprung, Luftfahrt, Landung - das sind die Stationen, aber dahinter verstecken sich viele Fertigkeiten, die auf den ersten Blick zum Fliegen gar nicht nötig sind. "Die Kinder sehen das im Fernsehen und sagen, das bringe ich auch", sagt Hübner, "oder die Mutter sagt, das bringt mein Sohn auch." Die Wirklichkeit sieht meistens anders aus. Wer Skispringer werden will, muss erstmal Ski fahren können, und auch ein gewisses Bewegungstalent im Turnen, in der Leichtathletik, in den Spielsportarten mitbringen, um das, was einfach aussieht, auch umsetzen zu können. Deshalb beginnt das Skisprungtraining der Sechs- bis Achtjährigen auch meist mit einer allgemeinen Bewegungsausbildung, spielerischem Athletiktraining, Übungen auf Ski am Hang, ehe es zu den ersten Sprüngen auf Schneehügel oder kleine Schanzen geht.

Die Sprünge der Kinder haben meistens noch nicht viel mit echten Sprüngen zu tun. Sie fahren über den Schanzentisch und lassen sich fallen, sie pflegen noch nicht diesen aktiven Abdruck, den sie irgendwann einmal auf den großen Bakken vorführen sollen. Fliegen lernt man nicht an einem Tag, es ist ein Prozess, der sich Schritt für Schritt von der einen Schanze zur nächst größeren vollzieht. Wie bei einem Vogel, der erst nach und nach das Vertrauen in seine Flügel gewinnt. Es gibt Schanzen aller Art, ganz kleine Schanzen, K10- oder K20-Schanzen, mittelgroße Schanzen, K40, K60, K80, Normal- (K90) und Großschanzen (K120) und die mächtigen Skiflugschanzen (K180). Das K und die Zahl kennzeichnen dabei die Lage das Kalkulationspunkts, an dem der Hang des Aufsprunghügels beginnt, sich ins Flache zu strecken.

Risikobereitschaft ihrer jungen Adler und dann bereiten sie ihre Schüler auf die nächste Aufgabe vor, der mancher mit Ungeduld, mancher mit Skepsis entgegensieht. Der Wechsel auf die größere Schanze ist nicht immer leicht für die Jungen, und der Blick vom Startbalken hinunter in den Zielraum, der plötzlich so unendlich weit weg zu sein scheint, hat manchen schon heillos überfordert. "Ich hatte Fälle", sagt Hübner, "da saßen die Springer fünf Minuten oben, und dann sind sie wieder runtergerutscht." Trost hat er dann spenden müssen, und die Gedanken vertreiben, dass Feigheit der Grund für die Verweigerung war. Denn die Angst gehört dazu, auch wenn manche sie lieber Respekt vor der Herausforderung nennen. "Angst", sagt Hans-Paul Herr, "ist ja im Grunde nichts Schlechtes." Herr ist Landestrainer in Baden-Württemberg und er hatte einmal einen Schüler, der sich mit Feuereifer von einer K20-Schanze stürzte. "Den hat es überschlagen. Da war die Karriere zu Ende." Der Bub war zehn. Mit etwas weniger Mut wäre er vielleicht ein guter Springer geworden.

Natürlich darf die Angst auch nicht zu groß sein, irgendwann müssen die Bedenken verschwinden und der Sprung in die Tiefe normal werden. Sie müssen sich mit der Luft anfreunden, mit ihren Launen und Eigenschaften, und dabei kann ihnen keiner helfen. "In der Luft", sagt Gert Hübner, "bin ich allein." Es gibt ein paar gängige Imitationsübungen, und gerade Gert Hübner weiß einige lebhafte Bewegungsanweisungen. Er ruft: "Ich kann nicht wie ein Polizist durch die Lande fliegen, es gehört dazu, dass man die Arme anlegt." Aber was nach dem Absprung passiert, kann nur der Springer selbst beeinflussen. Und wer es nicht kann, wird scheitern, bei allem Fleiß und bei aller Mühe des Trainers. "Das Gefühl, mit den Luftkräften umzugehen, hat man oder man hat es nicht", sagt Hans-Paul Herr.

Der Nachwuchs muss seinen Instinkten vertrauen, und so verlaufen auch die Leistungskurven unterschiedlich. Der Kombinierer Georg Hettich zum Beispiel, Silber-Gewinner bei der WM 2003 mit der deutschen Staffel und einer der besten Springer seiner Sportart, brachte es erst spät übers Herz, sich kopfüber den Winden zu übergeben. "Der ist mit 14 Jahren total aufrecht gesprungen", sagt Hans-Paul Herr, "da hat man noch nichts davon gesehen, dass das mal ein Weltklasse-Athlet wird." Herrs Sohn Alexander dagegen, Mannschaftsweltmeister 2001, ist schon mit zehn Jahren munter von der Normalschanze gesegelt, ebenso wie die neue deutsche Weltcup-Hoffnung Maximilian Mechler, der allerdings seinerzeit ein etwas verzerrtes Angstempfinden hatte. "Der hat sich im Schwimmbad nicht getraut, vom Fünf-Meter-Brett zu springen", sagt Hans-Paul Herr, "aber auf der Schanze war er ein absoluter Sauhund."

Die Wege des Skisprungs verlaufen manchmal seltsam, und das ist nicht immer gesund. Der Sport ist gefährlich, und das liegt nicht nur daran, dass einen bisweilen der Wind aus der Flugbahn reißen kann. Die Gesetze der Physik besagen, dass leichte Menschen weiter fliegen, was schlecht beratene Springer schon direkt in die Magersucht geführt hat und makabre Kurzzeithochs hervorgebracht hat. Vor drei Jahren fiel der 15-jährige Manuel Fettner als Weltcup-Fünfter von Bischofshofen auf, ein Bub von damals 40 Kilo; das Wachstum hat ihm seine Flugeigenschaften geraubt, vorne im Weltcup ist er seither nicht mehr gesichtet worden. Der Deutsche Michael Wagner flog in der Saison 1997/98 weit vorne in der Weltcup-Konkurrenz, wuchs und verschwand aus den Ergebnislisten. Echtes Talent erweist sich erst im Alter, Hans-Paul Herr kennt das auch: Er hatte mal einen Schüler, der früh als echter Siegspringer galt - heute ist Matthias Kleppe erwachsen, 2,06 m groß und spielt Volleyball in Baden-Württembergs Landesauswahl.

Sven Mundinger sagt: "Es ist wichtig, dass man viel mit den Kindern redet." Nicht nur um ihre Technik zu korrigieren, sondern wohl auch, um ihnen diese seltsame Sportart mit ihren seltsamen Gesetzen zu erklären. 800 Skispringer inklusive Jugendsportlern gibt es unter den 80 Millionen Deutschen, schätzt Hermann Wehrle, Nachwuchs-Referent im Deutschen Skiverband. Daran sieht man schon, dass man es mit einer sehr exklusiven Sportart zu tun hat, die nach sehr exklusiven Einsichten verlangt.

Zum Beispiel nach der, dass Skispringen schlichte Physik mit höchst komplexen Prozessen verknüpft, und den Springern damit Hochs und Tiefs zumutet, die kaum zu ergründen sind. Dass gewisse körperliche Voraussetzungen zu diesem Sport gehören, die aber keiner erzwingen darf. Und dass eine Skisprungkarriere leicht ins Leere laufen kann, wenn die Richtung nicht nach weiter oben weist. Mittelmäßige Fußballer können sich in den unteren Amateurligen beschäftigen. Beim Skispringen gibt einen solchen Betrieb kaum. Sven Mundinger hat es erlebt. Er ist schon auf Hinterzartens Adlerschanze gesprungen. Aber mit 20 gab es keine Perspektive mehr. Da hat er aufgehört.

"Skispringen ist kein Breitensport", sagt Gert Hübner und schaut schon wieder aus dem Fenster hinauf zu Hinterzartens stolzem Turm. "Um auf so 'ne Schanze raufzukommen, muss ich einen gewissen Aufwand betreiben. Skispringen kann ich nicht heute machen und morgen nicht mehr." Er weiß, wie schön es da oben ist. Aber auch, wie grausam es sein kann. Der Turm weckt große Träume, und oft genug zerstört er sie auch wieder.

© N/A - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: