Serie Olympiadörfer Teil 5:Auf Rädern gen Saarland

Der historische Wallfahrtsort St. Wendel beschreitet mit dem olympischen Trendsport Mountainbiken den irdischen Pfad des Stadtmarketings.

Von Holger Gertz

Thomas Wüst sagt, er ist jetzt nicht direkt ein Lokalpatriot, aber es nervt ihn schon, wenn immer alle fragen: Wo kommst du denn her, aus St. Wendel? Liegt das nicht irgendwo in Bayern? Oberbayern? Niederbayern? In Schwaben wenigstens, doch doch, St. Wendel, das klingt irgendwie beseelt, beinahe heilig, dass muss dort sein, wo auch Oberammergau nicht weit ist oder Altötting. Wenn der Name einer Stadt nach Zwiebeltürmen und liturgischem Gesang klingen kann, dann dieser: St. Wendel, in Worten Sankt Wendel.

Thomas Wüst sagt, er hat nichts gegen die Kirche, aber wenn sein Arbeitsort immer gedanklich nach Bayern verlegt wird oder in klerikal-verträumte Zwischenwelten, nervt das auf Dauer schon.

Das Gute daran: er kann das ändern. Thomas Wüst sitzt in einem modernen Büro, Wendalinusstraße 2, mitten in St. Wendel, und mitten in St. Wendel zu sein heißt: mitten im Herzen des Saarlands. Thomas Wüst ist Leiter des Amtes für Stadtmarketing, und was Stadtmarketing im Falle St. Wendel bedeutet, kann man an den Wänden lesen.

Überall Plakate mit Fahrradfahrern drauf, mal stilisiert, mal naturgetreu; verkämpfte Gesichter, verdreckte Bikes, bergan oder bergab fahrend, und immer ist St. Wendel im Bild, im Hintergrund, als Schriftzug. In Wüsts Büro sitzt man im Herzen von St. Wendel und im Herzen des Saarlands. Und im Herzen des Mountainbikens. Das war ihre Idee: sich zur Heimatstadt einer Sportart zu machen. "Und jetzt? Jetzt kommen Sie und machen eine Geschichte über Olympische Dörfer, und eines davon ist St. Wendel." Thomas Wüst lacht ein bisschen, dieses Lachen all derer, die eine Idee hatten. Eine ziemlich gute Idee.

Veralbert, aber bekannt

Eine Stadt, die nicht gerade München, Hamburg oder Köln heißt - was kann sie tun, um nicht verwechselt, vergessen, verschmäht zu werden? Sie kann darauf hoffen, dass der Fußballverein es in die erste Liga schafft und zum Beispiel Unterhaching nicht länger überall als Unterhachingen durchgeht.

Sie kann darauf hoffen, dass ein Sänger - in diesen Fall Max Goldt - mit seiner Formation - in diesem Fall Foyer des Arts - sich ein Lied ausdenkt. Ein Lied über - in diesem Fall - die Stadt Erlangen. Man wusste nicht sehr viel über Erlangen, bis Goldt Anfang der Achtziger, im Beiprogramm der so genannten Neuen Deutschen Welle - eine Art Hymne unter die Leute brachte: Wissenswertes über Erlangen.

Darin findet sich die aufklärerische wie symphatisch-bescheidene Strophe: Merken Sie sich eines: Erlangen liegt nicht im Sauerland!/Hier rechts das neue Schwimmzentrum,/zum Schwimmen, Trimmen, Sonnenbaden. Diese Seite Erlangens ist weithin unbekannt.

Oder: Man setzt auf Mountain-Bike. Thomas Wüst, vielleicht Mitte dreißig, war nicht von Anfang an dabei, die Bewegung lief schon, als er dazukam, und sie machte St. Wendel zu dem, was es heute ist. Jedenfalls steht das auf vielen Seiten im Internet. St. Wendel ist: ein Mountainbike-Mekka.

Zwar haben die Berufszyniker von der taz den schwer auszusprechenden Begriff Mountainbike-Mekka mal zum dümmsten Wort des Jahres gewählt und empfohlen, man möge sich das einfach mal vorstellen: "Mountainbiker in weißen Gewändern umrunden die nicht würfelförmige, sondern radrunde Kaaba." Aber, damit muss man leben, als Marketingmann. Ein Marketingmann macht Werbung, und Werbung lässt sich immer ziemlich leicht veralbern.

Allerdings, veralberte Werbung ist eigentlich die bessere Werbung, weil das beweist, dass die Werbung wahrgenommen wird. Also, Thomas Wüst, Amtsleiter im Mountainbike-Mekka, blickt an seine Wände voller Mountainbikes und erzählt, dass ohne einen bestimmten Mann alles nicht hätte funktionieren können. "Sie kennen ihn doch?"

Jeder kennt ihn. Was Rudolf Moshammer für München ist und Heidi Kabel für Hamburg und Charly Neumann für Schalke 04 und Emil Beck fürs Fechten, das ist Klaus Bouillon für St. Wendel. Einer, der immer da war, der immer da sein wird und ohne den es irgendwie nicht geht. Ein symbol-gewordener Mensch. Bouillon ist Bürgermeister, immer schon, genauer gesagt "im zweiundzwanzigsten Jahr, ich war mal der jüngstem als ich angefangen hab, mit 35".

Er selbst fuhr Rad, fährt Rad und wird ewig fahren, auf Rennrädern, aber auch auf Mountainbikes. Einmal im Jahr hechelt er mit seinen Mitarbeitern aus der Stadt irgendwelche Berge hoch, das ganze speist sich aus Spaß am Sport und persönlicher Neigung, aber der Bürgermeister dieses Olympischen Dorfes verschweigt nicht, dass es auch ums Geschäftliche geht, um den wirtschaftlichen Aspekt des Booms. Dass, umgekehrt, dieser Boom sogar entfacht wurde, zum Wohle der Wirtschaft.

Ein Olympisches Dorf muss schließlich auch von irgendwas leben, und ein Bürgermeister eines Dorfes mit 30000 Menschen inmitten einer armen Region muss schauen, woher er das Geld bekommt. Und bei der Gelegenheit sieht er auch nicht davon ab, den Minderwertigkeitskomplex aller gebeutelten Provinzfürsten zu pflegen: "Uns geht es schließlich nicht so gut wie Ihnen im schönen München."

Wenn die Bevölkerung im Saarland und drumherum großes Interesse an Wüstenrennmäusen hätte, würde Bürgermeister Bouillon in St. Wendel vermutlich regelmäßig Wüstenrennmaus-Ausstellungen durchgeführt haben, die Stadt wäre zum Wüstenrennmaus-Mekka geworden, aber bei 30 Millionen Radlern im Land hat er sich lieber an die Bikes gehalten. Den ersten Mountainbike-Marathon kreiert, Deutsche Meisterschaften nach St. Wendel geholt, verschiedene Strecken gebaut, die Landschaft erwies sich als geduldig. Dann Weltcups, die Europameisterschaft, das nächste große Event ist die Querfeldein-WM im Jahr 2005.

Oder "in zwofünf", wie Klaus Bouillon sagt, in der knappen Diktion eines präzise kalkulierenden Buchhalters, der sogleich aufzählt, was das Geschäft mit Mountainbike der Stadt gebracht hat. Dauernd volle Hotels, es kommen ja nicht nur die Fahrer, auch die Betreuer, Masseure, Ärzte, Fernsehleute. Seit Mountainbike olympische Disziplin ist, geht alles noch schneller.

Was das angeht, hatte Thomas Wüst gesagt, hätten alle die Nase im Wind gehabt, oder im Trend. Wenn das ZDF in der Sportreportage einen Bericht bringt, klingen bei den Hoteliers am nächsten Tag sogleich alle Telefone. Oder, die Radsportfunktionäre halten Kongresse ab, es gibt die großen Veranstaltungen und die kleinen, demnächst eine Weltmeisterschaft im Rollski, was immer das sein mag.

Die Mountainbiker kommen nicht allein zu Meisterschaften, sondern auch ins Trainingslager. Bouillon weiß, das dann wieder ein paar hundert Betten belegt sein und den Trend stärken werden. Ganz vorn im Saarland bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, ganz vorn im Strukturwandel. Die Handelskammer habe das ermittelt, sagt Bouillon, und in Focus Money habe auch was gestanden.

St. Wendels Randlage, im äußersten Südwesten der Bundesrepublik Deutschland im Saarland, bietet wegen seiner Nähe zu Frankreich manchmal die Gelegenheit, den Geist des Städtchens zielgerichtet über die Grenzen hinaus zu tragen. 2002 rauschten die Fahrer der Tour de France während einer Etappe durch den Ort, ein Aktionskünstler schneiderte im Auftrag der Stadt St. Wendel das wohl größte Gelbe-Trikot der Welt und ließ es an der Strecke nahe Oberlinxweiler auslegen.

Wenn man jetzt, zwei Jahre später, in den Zeitungen von damals blättert, kommen einem die Berichte vor, als hätte hier das größte Ereignis aller Tage stattgefunden. "Einige Fahrer haben mit geöffnetem Mund sich mehrmals umgedreht und einfach nur gestaunt. Die haben ein solches Spektakel, dass wir an diesem Tag veranstaltet haben, noch nie erlebt", wird der Bürgermeister in der Saarbrücker Zeitung zitiert.

Aber jetzt erzählt er schon ein wenig beruhigter vom Ertrag der Begeisterung: Von einem Dekorationspreis, den sie damals von der Tour-Leitung zuerkannt bekommen haben. 20 000 Mark gab es, die haben sie gleich in Gitter für Rennstrecken investiert. Und, die Fotos von dem Riesentrikot wurden in allen Sendern, in allen Zeitungen gezeigt.

So geht es immer weiter. "Wir müssen werben, werben, werben", sagt Bouillon. Joe Cocker war da, Nena, Pink wird kommen. Nicht nur Radsport, auch Gesang. Die WM im Rollski, die ADAC Rallye Deutschland. Nicht nur Radsport, auch Autos. "Professionell organisierter Rallyesport auf Weltniveau ist eine unschätzbare Ergänzung unseres Stadtmarketings" formuliert Bouillon, und manchmal hört sich das schon so an, als nähmen sie den Sport hier sehr, sehr wichtig.

Wissenswertes über St. Wendel, das ein Mountainbikedorf ist, aber eine Werbeinsel auch; ein Marketingmarktplatz, ein Image-Produkt. Aber auch ein Wallfahrtsort mit Geschichte. Der katholischen Legende nach soll der Namensgeber Wendalinus, der Schutzpatron von Vieh und Umwelt, als Eremit und Hirte an der oberen Blies gelebt und 617 als Abt des nahen Klosters Tholey gestorben sein.

Die Wendalinusbasilika verfügt über eine der seltenen Steinkanzeln und ein Grab, das die Gebeine des Heiligen enthält. "Man hätte sicher mehr Wert auf die Geschichte legen können", sagt Thomas Wüst, der Marketing-Chef, aber das war vor seiner Zeit, und er ist nicht schuld daran, dass vielleicht etwas versäumt wurde. Allerdings: "Ich muss sagen, ich habe da nicht so einen richtigen Draht dazu."

Wüst sagt: "Da steht am Stadtrand so eine Kapelle", aber was genau drin ist, in der Kapelle, weiß er jetzt auch nicht. Er kommt ehrlich gesagt aber auch nicht direkt aus St. Wendel, sondern aus der Nähe von Trier. Aber egal. Wenn jetzt jemand käme und sagte: Da habt ihr so eine lange, gewachsene Tradition - und investiert so viel in einen vergänglichen Trendsport? Dann könnte Herr Wüst, zugezogener St. Wendeler, locker antworten: Hätten wir denn mit der tollen Tradition so viele Touristen herangelockt?

"Eyy! Säänkt Wöndell!"

Eben. Aber mit Mountainbikes. Ganz früher haben sich die Grünen noch aufgeregt, über die Schändung der Natur, und er hatte mal einen Reporter vom Spiegel am Telefon: Er hätte Informationen, sie würden Mountainbikerennen mitten im Naturschutzgebiet austragen. Neinnein, hat Wüst gesagt: Der Weltcup findet in Naturpark im Hunsrück statt, aber ein Naturpark ist kein Schutzgebiet, sondern ein touristisches Konzept.

Alles ist geregelt, sagt Wüst, mit den Forstbehörden und den Jagdpächtern. Auf alles hat er eine Antwort. Er erzählt eine Geschichte. Neulich kam ein altes Ehepaar in sein Amt, das gerade in Kalifornien im Urlaub mit St. Wendel-T-Shirts rumgelaufen war. "Eyy", hatte da ein Amerikaner gebrüllt. "Säänkt Wöndell! Bike Worldcup!" Das sind so die Augenblicke, in denen Wüst und Bouillon und die anderen das Gefühl haben, in dieser Zeit alles richtig gemacht zu haben, für ihre Stadt.

Und für sich selbst irgendwie auch. Ober-Bürgermeister Klaus Bouillon wäre vor vier Jahren beinahe Innenminister im Saarland geworden, trat aber das Amt dann doch nicht an, angesichts staatsanwaltlicher Ermittlungen wegen des Verdachts der Vorteilsnahme im Zusammenhang mit einem Grundstücksgeschäft. Die Sache hat ihm nicht geschadet, jedenfalls nicht in St.Wendel, seiner Geburtsstadt, die er beschenkt hat mit einer Idee, einer Idee namens Mountainbike. Bei der letzten Bürgermeisterwahl fiel der Wahlkampf aus, die Opposition hatte niemanden gefunden, der gegen Klaus Bouillon hätte verlieren wollen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: