Schwimmen:Schwimmen nach Gehör und Gefühl

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Europameisterin, WM-Dritte, Medaillenkandidatin: Maike Naomi Schnittger, 22, will sich in Rio de Janeiro ihre erste paralympische Medaille sichern. (Foto: imago)

Die sehbehinderte Maike Schnittger studiert, ohne je ein Buch ausgeliehen zu haben. Um es zu den Paralympics zu schaffen, zog sie in ein fremdes Umfeld, musste sich dort neue Türen, Treppen, Bordsteinkanten merken.

Von Johannes Knuth, München

Wenn die Schwimmerin Maike Naomi Schnittger ins Wasser taucht, weiß sie sofort, ob es ein guter oder schlechter Start war. Obwohl sie kaum noch etwas sieht, nur links und rechts ein wenig, peripher. Als hätte jemand ein Bild in der Mitte ausradiert. "Ich mache extrem viel übers Gehör", sagt sie, "ich höre, ob meine Hand richtig eintaucht oder nicht, auch im Wasser." Dann schwimmt sie nach links, bis ihre Schulter an die Leine stößt, die Leine ist ihr Kompass. Und schließlich die Wende, die ist immer ein kleines Glücksspiel. Schnittger weiß ja nie genau, wie weit die Beckenwand noch entfernt ist. Neulich haben sie ausgerechnet, dass Schnittger vor der Wende drei Viertel ihrer Geschwindigkeit einbüßt, ungewollt. Weil man sich schnell mal die Hacken aufschürft oder den Kopf anstößt. "Es ist alles Gefühl", sagt sie. Egal, wie vertraut sie mit dem Becken und dem Sport mittlerweile ist.

Schnittger, 22, ist eine Hoffnung der deutschen Schwimmer bei den Paralympics in Rio, neben Elena Krawzow, Emely Telle, Verena Schott und Daniela Schulte. Am Donnerstag stehen die 100 Meter Schmetterling an, später die 50, 100 und 400 Meter Freistil. Sie war zuletzt Dritte bei der WM in Glasgow, 2012 war sie schon bei Olympia in London dabei. Eine paralympische Medaille fehlt ihr noch. "Ich glaube, dann würde ich einen dreifachen Salto machen", sagt sie. Die aktuelle Saison meinte es nicht gut mit ihr, erst ein Kreuzbandanriss, später eine Thrombose. Ihr Trainer Christian Prochnow musste sie zur Pause überreden. "Wenn ich das gemacht hätte, was mein Kopf will - nämlich immer durch die Wand - will ich nicht wissen, wo ich jetzt wäre", sagt Schnittger. Was also tun, wenn einem die Zeit entgleitet? "Jede Einheit machen, als wäre es die letzte", sagt sie, sie lacht, dann fügt sie an: "So haben wir es dann auch durchgezogen."

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Schnittger lebt und trainiert in Potsdam. Sie studiert nebenbei Psychologie, so wie die meisten Paralympics-Teilnehmer eben Sport und Beruf oder Ausbildung verbinden müssen. Auch wenn sich die Förderprogramme angleichen - noch kann längst nicht jeder von seinem Sport leben. Und was in der olympischen Welt selbstverständlich ist, kostete Schnittger einst viel Überwindung. Vor drei Jahren löste sie sich aus ihrem Umfeld aus Westfalen, vom kleinen TG Ennigloh, wo sie ihr Vater trainierte, und zog an den Olympiastützpunkt in Potsdam. Schnittger konnte bis zum zehnten Lebensjahr normal sehen, seitdem lebt sie mit einer Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, ihre Sehkraft ist mittlerweile auf eineinhalb Prozent geschrumpft. Da kosten kleine Veränderung viel Energie. "Man muss sich eine Menge merken", sagt sie, welches Haus in der Reihensiedlung zu ihrer Wohnung gehört, wo der nächste Supermarkt ist, die nächste Treppenstufe oder Bordsteinkante. Oder am Stützpunkt: die Umkleiden, die Toiletten, das Becken, der Eingang. "Da irrt man erst wie so ne' Verrückte ums Gebäude, auch über den Rasen", erinnert sich Schnittger. "Aber wenn ich mich einmal wohlfühle, sind diese Probleme echt minimiert. Es ist nur der Anfang, der sehr schwierig ist."

Die zweite Klippe war das Studium. Auch, weil Schnittger ihren Kommilitonen erst verschwieg, dass sie sehbehindert ist. "Ich dachte, das wäre sonst so ein Stimmungskiller", erinnert sie sich. "Da bin ich wohl so gestrickt, dass ich alles erst mal so machen will wie ein "normaler" Mensch." Ihre Kommilitonen wunderten sich also, warum Schnittger ihr Gesicht immer so nahe vor ihr Handy hielt. Oder sich nie Bücher auslieh. Sie organisierte sich dafür die Folien vor einer Vorlesung und ließ sie sich zu Hause von einem Programm vorlesen. Ein Studium, ohne sich je ein Buch auszuleihen? "Bisher bin ich damit immer durchgekommen", sagt Schnittger. Sie steckt mittlerweile im fünften Semester. Viele Prüfungen hat sie mit einer Eins vor dem Komma beschlossen.

Irgendwann erzählte Schnittger ihren Kommilitonen von ihrer Behinderung - kein Problem. Mittlerweile kann man an ihrem Beispiel auch studieren, wie Inklusion funktionieren könnte, in einem Biotop, das Schnittger Freiraum für ihre duale Karriere schuf, wie allen anderen olympischen Sportlern auch. Die Dozenten schicken ihr die Vorlesungsfolien, sie prüfen sie oft mündlich (statt schriftlich), so, dass es in ihren Wettkampfkalender passt. Ihr Trainer, ein ehemaliger Olympia-Triathlet, zeigt ihr nicht mehr die richtige Arm- oder Beinhaltung, sondern erklärt sie. Wovon auch seine nicht-sehbehinderten Athleten profitieren. Schnittger wird von der Sporthilfe und der Egidius-Braun-Stiftung gefördert, ihre Uni kooperiert mit dem Olympiastützpunkt, und zwar so, dass "olympische wie paralympische Leistungen gleichermaßen anerkannt werden", hat sie beobachtet: "Deutschlandweit kann man davon sicherlich noch nicht zu 100 Prozent reden."

Nach Rio wird sie an den Bachelor einen Master hängen, vielleicht noch die Fachausbildung an der Klinik. Sie wird wohl ein wenig länger als die anderen brauchen, zehn Jahre ungefähr. "Aber es ist ja nicht so, dass ich jetzt nichts mache", sagt sie, und da ist wohl was dran: Sie zeigt, was mit viel Disziplin und ein bisschen Kopf-durch-die-Wand möglich ist, in ihrem normalen, dualen Sportlerleben.

© SZ vom 07.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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