Schwächelnder THW Kiel:Schmerzen auf Platz zwei

Rene Toft Hansen

Duell schon um die Meisterschaft? Die Rhein-Neckar Löwen erwarten den THW Kiel. (Hier ein Bild aus der Vorsaison)

(Foto: dpa)
  • Der THW Kiel ist es gewohnt, im Handball alles zu gewinnen. Der plötzliche Abschied seines besten Spielers Filip Jicha hat den Klub allerdings angegriffen.
  • Der Rekordmeister hat schon vier Punkte Rückstand auf die Rhein-Neckar Löwen, am Mittwochabend steigt das Spitzenspiel in Mannheim.
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Von Carsten Eberts

Diese Szene aus dem August sagt viel aus über die Gemütslage beim THW Kiel. Als Filip Jícha samt Ehefrau in der Geschäftsstelle des deutschen Handball-Meisters auftauchte, mit zwei Torten in den Händen, auf denen geschrieben stand "Vielen Dank für das, was ihr für uns getan habt", sollen bei einigen Mitarbeitern Tränen in den Augen geblitzt haben. Und trotzdem hat Filip Jícha erfahren müssen, dass man mit Torten nicht alles wiedergutmachen kann.

Seit 2007 hatte Jícha in Kiel gespielt, acht lange Jahre, in denen er zum Welthandballer gereift ist. Er hat so vieles richtig gemacht, sportlich und menschlich - war stets ein sehr angenehmer Gesprächspartner, für Mitspieler, für Gegner, für Fans, auch für Journalisten. Doch dann wechselte er in diesem Sommer Knall auf Fall zum FC Barcelona, dem auf internationaler Ebene größten Konkurrenten der Kieler.

Manch einer hat ihn verstanden, Jícha ist 33 Jahre alt und wird von finanziellen Sorgen geplagt, weil er sich mit Immobiliengeschäften in seiner Heimat Tschechien verspekuliert hat. In einem offenherzigen Interview mit den Kieler Nachrichten erklärte er seine Notlage: Barcelona bot ihm ein fürstliches Gehalt, etwa 250 000 Euro mehr in vier Jahren als er in Kiel verdient hätte. Jícha wollte diese Chancen nutzen. Sein Berater sagt: Er musste.

Gíslason tritt gegen Jícha nach

Doch es gibt auch Leute in Kiel, die sich schwertun mit dieser Sichtweise. Die Jíchas plötzliches Entschwinden als Verrat ansehen. Alfreð Gíslason zum Beispiel, sein Trainer, der in dieser Woche gegen seinen früheren Kapitän nachgetreten hat. "Lövgren und Ahlm hätten niemals so gehandelt", erklärte Gíslason im Handball-Magazin inside, was in Kiel als scharfes Urteil zu verstehen ist. Stefan Lövgren und Markus Ahlm, das sind die größten Kieler Spieler des vergangenen Jahrzehnts. Ihre Trikots hängen hoch oben unter dem Dach der Ostseehalle, neben dem von Magnus Wislander, einem weiteren Helden, der in Kiel niemals vergessen wird.

Jíchas Trikot wird wohl nicht unterm Hallendach hängen, dafür missriet sein Abschied zu sehr. Mit ihm verlor Kiel den Leitwolf, denjenigen Spieler, der in kritischen Situationen stets voranging - und der nicht selten den entscheidenden Wurf reinmachte. Der in Kiel eigentlich seine Karriere beenden wollte. Gíslason hat erklärt, in welchen Zwiespalt Jícha den Verein gestürzt hatte. Der THW hätte als herzlos gegolten, hätte man Jícha zum Bleiben verdonnert, bei allem, was der Tscheche für den Verein geleistet hat. Also entschied man sich, den stilprägenden Rückraummann gehen zu lassen - für eine Ablösesumme um die 750 000 Euro, auf die Kiel jedoch gerne verzichtet hätte.

Überraschende Niederlagen gegen kleine Klubs

Zurück bleibt eine geschwächte Mannschaft ohne Häuptling, da ist Gíslasons Frust verständlich. Ohne Jícha klarzukommen, gelingt dem Allesgewinner im deutschen Handball aktuell nicht so gut. Am Mittwochabend tritt der TWH zum Spitzenspiel bei den Rhein-Neckar Löwen an, vier Punkte beträgt der Rückstand der Kieler schon. Geht auch dieses Spiel verloren, ist die Meisterschaft quasi futsch. Solche Aussichten sind ungewohnt, sie tun weh. In der Liga verlor der THW unerwartet 21:29 bei Frisch Auf Göppingen, in der Champions League 22:29 bei RK Zagreb. Das ist nicht der THW Kiel, den der deutsche Handballfan kennt.

Das hat auch mit Jícha zu tun, vor allem, weil der Zeitpunkt seines Abschieds so ungünstig war. Kiel mühte sich zwar, Ersatz zu finden, doch der eilig verpflichtete Norweger Erlend Mamelund konnte Jícha in den bisherigen Spielen nicht ersetzen. Hätte der THW schon im April gewusst, dass Jícha geht, wäre Rasmus Lauge wohl nicht nach Flensburg gewechselt. Und jetzt fällt auch noch Kreisläufer Patrick Wiencek mit einem Kreuzbandriss für ein halbes Jahr aus.

Jíchas Abschied war nicht planbar

Die Wucht der Ereignisse durch fehlende Planbarkeit, das ist die übergeordnete Geschichte, die beim Fall Jícha mitschwingt. Der THW Kiel hat es über zwei Jahrzehnte geschafft, sich dank kluger Personalpolitik (und auch dank seiner Finanzkraft) an der Spitze der Sportart zu halten. Die Erfolgsgeschichte ist beispiellos, 17 Mal wurde der Klub seit 1994 Deutscher Meister, zuletzt von 2012 bis 2015. Dreimal gewann der Klub die Champions League, wurde Klubweltmeister. Stand ein Umbruch an, wurde rechtzeitig geplant und bestenfalls schon der Ersatz verpflichtet, lange bevor ein prägender Spieler den Klub verließ. Wie 2013, als gleichzeitig Thierry Omeyer, Marcus Ahlm, Daniel Narcisse und Momir Ilić den Klub verließen. Kiel war vorbereitet, wurde 2014 trotzdem Meister.

Bei Jícha ist das anders. Sein Abschied ließ sich nicht planen, hier wurde Kiel überrumpelt - und muss sich damit abfinden, in dieser Saison vielleicht nur Zweiter oder Dritter zu werden. Die Rhein-Neckar Löwen sind aktuell das stärkere Team, in diesem Jahr könnte es für die Mannheimer mit der ersehnten Meisterschaft klappen, ehe im kommenden Sommer auch ihr prägender Spieler den Klub verlassen wird, wenn Linksaußen Uwe Gensheimer nach Paris wechselt.

Gensheimer hat, im Gegensatz zu Jícha, seinem Verein ein Dreivierteljahr im Voraus Bescheid gegeben.

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