1860 schlägt St. Pauli :Bis die Linse rutscht

Beim 2:o-Sieg gefällt bei den Löwen vor allem Stürmer Rubin Okotie. Den ersten Treffer bereitet er vor, den zweiten erzielt er selbst, dann verliert der Österreicher beim Jubeln eine Kontaktlinse.

Von Philipp Schneider, München

Kurz nach Spielschluss verbreitete sich die einzige bedauerliche Nachricht des Tages in den Katakomben der Arena: Rubin Okotie werde nicht zum Interview erscheinen. Dies sei unmöglich, teilte eine Sprecherin des Fußball-Zweitligisten TSV 1860 München mit, Okoties räumliches Wahrnehmungsvermögen sei leider zu eingeschränkt. Tatsächlich verhalte es sich sogar so, dass Okotie hinter der Tür etwas unbeholfen umher schwanke, sagte die Sprecherin, der österreichische Stürmer sehe kaum noch etwas, seit ihm im Überschwang des Torjubels zum 2:0 eine seiner Kontaktlinsen aus dem Auge und auf den Rasen gefallen war. Das erklärte einiges. Fand zumindest Okoties Trainer Benno Möhlmann: "Jetzt weiß ich wenigstens, dass er Kontaktlinsen hat", witzelte er. "Das war mir nicht klar."

Das erste Tor (53. Minute) vorbereitet, das zweite (56.) selbst erzielt: In den vier Minuten, bevor sich Okoties Blick in Unschärfe verlor, hatte er dieses 2:0 (0:0) der Münchner gegen den vormaligen Tabellenzweiten FC St. Pauli geprägt - und gemeinsam mit seinem Landsmann Michael Liendl entschieden, dem er den ersten Treffer aufgelegt hatte. Und dieser in seiner Deutlichkeit erstaunliche zweite Saisonsieg der Löwen hatte sich auch noch vor den Augen von Investor Hasan Ismaik zugetragen, der erstmals seit Dezember 2014 in der Arena weilte.

"Wir waren richtig verdattert", klagte Paulis Trainer Ewald Lienen: "Zwei Gegentore in vier Minuten sind uns auch noch nicht oft passiert." Und Möhlmann, dessen Münchner Mannschaft noch viel seltener zwei Tore in vier Minuten passiert sind, sagte: "Ich muss dem Ewald Recht geben: Erst durch den Doppelpack haben wir das Selbstbewusstsein bekommen, das ich mir zu Beginn erhofft hatte."

1860 beginnt behäbig, Pauli vergibt die Führung

Tatsächlich begann Sechzig die Partie mal wieder eher behäbig. Nachdem sich die Fans bereits bei den intensiven Einlasskontrollen vor der Arena geduldig zeigen mussten, erlebten sie im Innern zunächst nur Torchancen der Hamburger. Acht Minuten waren gespielt, als Lennard Thy im Strafraum ablegte auf Waldemar Sobota, der schoss - und Vitus Eicher lenkte den Ball mit den Fingerspitzen gerade noch so an den Pfosten. Immer wieder durften die Gäste die Durchlässigkeit der gegnerischen Abwehr testen: Marc Hornschuh fand nach einer Viertelstunde erstaunlich viel freien Raum auf der rechten Seite, er flankte in die Mitte auf Thy. Und Thy köpfelte, vermutlich überrascht von ausbleibender Deckung im Fünfmeterraum, knapp am Tor vorbei. "Wenn wir in der Phase in Führung gehen, dann geht das Spiel anders aus", referierte Lienen anschließend. Niemand widersprach.

1860 München - St. Pauli

Reingezwirbelt: 1860 München schießt in dieser Saison bisher wenige Tore. Wenn die Löwen aber treffen, wie hier Robin Okotie (19), dann sehenswert.

(Foto: Andreas Gebert/dpa)

Die Münchner zeigten in dieser Phase immerhin erstaunlich laufintensives Pressing und attackierten weit in Paulis Hälfte. Sie spielten nach Balleroberung ihre Passstafetten aber nicht zu Ende. Einmal setzte Richard Neudecker zu einem Konter über den linken Flügel an, flankte auf Liendl, doch der passte in ein Knäuel aus gegnerischen Beinen - anstatt zum mitgelaufenen Daylon Claasen. Weil die Hamburger das Zentrum zustellten, versuchte Liendl die Partie immer wieder in die Breite zu ziehen: Links suchte er Wolf, rechts Claasen. Oft aber verfehlte er links Wolf, rechts Claasen. Er änderte seine Strategie, und nach 33 Minuten probierte er es erstmals aus der Distanz, mit der ganzen erstaunlichen Wucht, die seinem Fuß innewohnt: vorbei.

Die Löwenfans setzen den neuen Präsidenten unter Druck

Wohl auch um ein bisschen Schwung in die Arena zu bringen, entrollten die Fans in der Nordkurve ein großes Plakat. Aufschrift: "Cassalette: Mitgliedervotum respektieren: Raus aus der Arena!" Auf einer außerordentlichen Versammlung hatten Sechzigs Mitglieder ja vor einer Woche tatsächlich mit knapper Mehrheit einen Antrag verabschiedet, der Klub solle "bis spätestens zur Saison 2017/18" aus der Arena ausziehen. Wohlwissend, dass noch bis 2025 gültige Verträge vorhanden sind - und noch keine Ausweichspielstätte gefunden ist. Cassalette, der neue Löwenpräsident, hatte danach angemerkt: "Das kann nicht bindend sein, sonst müssen wir morgen über den Sportdirektor und Trainer abstimmen." Deshalb nun also: das Plakat. Und dann die Pause.

Möhlmann und Lienen schickten dasselbe Personal zurück auf den Rasen, aber die Mannschaften spielten nun ein völlig anderes Spiel; acht Minuten dauerte es bis zu Lienens Verdatterung. Okotie behauptete den Ball gegen drei Gegenspieler, ließ sich nicht abdrängen, blieb auf Kurs wie ein Bananenfrachter im Panamakanal, dann passte er auf Liendl. Der Österreicher lief noch ein paar Meter, dann zog er mal wieder ab. Und wie. 25 Meter flog der Ball durch die Luft, ehe er neben Paulis staunendem Torwart Robin Himmelmann ins Netz segelte - der vermutlich noch nach Spielschluss rätselte, seit wann Bälle in der zweiten Liga die Geschwindigkeit von Düsenjägern erreichen. Vier Minuten darauf zog Wolf einen Spurt über die linke Seite an, legte ab auf Okotie, ein Drehschuss, das 2:0. Die Vorentscheidung.

21 11 2015 Fussball 2 Bundesliga 2015 2016 15 Spieltag TSV 1860 München FC St Pauli Hamburg i

Der Investor ist da: Hasan Ismaik (vorn, Mitte) ist erstmals seit Dezember 2014 wieder Gast in der Münchener Arena.

(Foto: imago)

An der Seitenlinie hüpfte Möhlmann entlang, brüllend, die Fäuste zu kleinen Paketen geballt. Konnte das wahr sein? Fragte sich auch Lienen, der flink ein paar mutmaßlich kritische Beobachtungen auf seinem Zettel notierte. Verunsicherung machte sich breit in seiner Mannschaft, die Fehlpässe nahmen zu. Und Sechzig zog sich angesichts der bequemen Führung in die eigene Hälfte zurück, um von dort lässig zu kontern. Immer wieder schickte Liendl Pässe in die Spitze zu Okotie, der aber inzwischen seine Kontaktlinse vermisste: Einmal zögerte er zu lang mit dem Abschluss (68.). Ein anderes Mal legte er zurück auf Liendl, der von der Strafraumgrenze den Ball nicht richtig traf (71.).

Die Münchner sind nun wettbewerbsübergreifend seit vier Pflichtspielen ungeschlagen. Sie schoben sich vor auf Tabellenplatz 16 und haben damit zum ersten Mal seit dem fünften Spieltag die direkten Abstiegsplätze verlassen. "In unserer Lage ist nicht wichtig, ob ein Tor schön ist oder nicht", sagte Liendl, der Schütze des schönsten Tors bei 1860 seit langem: "Es war einfach ein sehr wichtiger Sieg."

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