Schiedsrichter bei der Fußball-WM:Vorteil Brasilien

Brazil v Chile: Round of 16 - 2014 FIFA World Cup Brazil

Gestrecktes Bein voraus: Brasiliens Luiz Gustavo (rechts).

(Foto: Getty Images)

Neymars tragischer Wirbelbruch taugt nun als Blaupause für das, was in der Schiedsrichterei bei der Fußball-WM schiefläuft. Brasilien hat sich vom "jogo bonito" verabschiedet und foult so oft wie keine andere Mannschaft. Die Fifa toleriert das schmutzige Spiel.

Ein Kommentar von Thomas Kistner, Fortaleza

Es hat ja nun einen Wirbelbruch gebraucht. Sonst wäre die Leistung von Carlos Velasco Carballo im Spiel Brasilien - Kolumbien gewiss kein Thema gewesen. Das anhaltende Brot-und-Spiele-Ambiente dieses WM-Turniers hat sich dem Publikum eingebrannt: Ist ja auch schaurig-spektakulär, wie einer in den anderen rauscht, Ellbogen gegen Gesichter zucken, Sohlen auf Gelenke treffen - und der Unparteiische, der einst für die Eindämmung solcher Auswüchse zuständig war, seine Funktionsbeschreibung enger denn je interpretiert: Er bleibt unparteiisch. Er schaut zu und hält sich raus aus allem.

Nun taugt die für Neymar tragische Viertelfinal-Partie als Blaupause für das, was in der Schiedsrichterei schiefläuft. Besonders im Hinblick auf Brasilien, das ja sein jogo bonito von einst flott in ein jogo sujo umgemodelt hat, in einen Stil, der schmutzige Praktiken gezielt mit einbezieht.

Zum taktischen Grundrepertoire der Seleção gehört es leider, des Gegners Spielaufbau möglichst früh zu unterbinden; am besten bei der Balleroberung. Das war aber schon im Vorjahr beim Confed Cup so, und es wurde von den Teams auf breiter Ebene beklagt. Umso interessanter ist die Frage, warum trotz dieser klaren Vorzeichen die Fifa dem Trend noch Vorschub leistet. Denn aus den WM-Schiedsrichterkreisen ist immer deutlich herauszuhören, dass es diskrete Anweisung gibt, so wenig gelbe Karten wie möglich zu verteilen.

Wie das konkret abläuft, kann dahingestellt bleiben. Tatsache ist längst, dass die Entwicklung bei dieser WM nicht gestoppt worden ist. Niemand hat die Referees zur strafferen Regelauslegung ermahnt, nicht bei den vielen taktischen Fouls und schon gar nicht bei den brutalen. Das Resultat dürfte also das erwünschte sein, alle Risiken inklusive.

Kein Sponsor, der nicht mit Emotionen wirbt

Bei der WM bewirkt das zweierlei. Die ohnehin enormen Emotionen werden weiter aufgeheizt, auf Rasen, Rängen und vor den Fernsehern. Denn was mit so einer Fußball-WM wirklich verkauft wird, wenn der halbe Planet zuschaut und sich Einschaltquoten der 100-Prozent-Marke annähern, ist ja nicht Fußball. Sondern: Emotion. Im Alltag nach dem Turnier pendelt der Fußball auf Normalmaß zurück; es bleiben die Fans, die im Kern am Spiel interessiert sind und es ständig verfolgen. Aber so eine WM: Das ist das globale Hochamt der Gefühle und Patriotismen, kein Sponsor, der den Begriff Emotion nicht im Werbespot führt.

Zweiter Effekt: der Vorteil Brasilien. Ungeachtet einzelner Entscheidungen, ist ja das Gegenteil dessen festzuhalten, was Guru-Coach Felipe Scolari ständig den Fans erzählt: Die zur Teilnahmslosigkeit erzogenen Referees gehen zwangsläufig äußerst nachsichtig mit seiner Seleção um. Deren jogo sujo, die taktische Foulerei, blieb fast immer folgenlos. Das verschafft Vorteile, zumal, wenn so ein Stilmittel einstudiert ist und nicht nur situativ eingesetzt wird, ohne Übung.

Insofern bestätigt sich, was vor dieser WM wie vor jeder WM zu befürchten war: dass es ein wenig Anschubhilfe geben könnte. Weil der Verbleib des Gastgebers im Turnier nun mal der Kernfaktor für Stimmung und Vermarktungschancen der Party ist. Brasilien führt mit bisher 96 Fouls die Statistik an, es hat drei Spieler unter den Top 20 mit den meisten Fouls - darunter zwei Stürmer, Hulk und Neymar. Es kommt also aufs frühe Zerstören an, damit sich die Abwehr formieren kann. Wenn aber der stille Triumphzug des jogo sujo so toleriert wird, sind die Hauptverantwortlichen nicht in der Seleção zu suchen. Sondern bei denen, die ihn verhindern müssen.

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