DFB-Team:Khedira rückt ins Blickfeld

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War beim Bundestrainer bislang stets gesetzt: Sami Khedira. (Foto: AFP)
  • Durch seinen Ballverlust leitete Sami Khedira das 1:0 der Mexikaner ein, auch in anderen Situationen sah er nicht gut aus.
  • Die Abwesenheit eines geordneten Mittelfeldspiels fiel in der Partie besonders auf.
  • Die Frage ist, wie viel Freiheit sich Joachim Löw nimmt, und wie viel Mut er aufbringt bei der nächsten Aufstellung. Kimmich ins Mittelfeld zu versetzen, wäre eine Option.

Von Philipp Selldorf, Moskau

Während sich die Herren vom mexikanischen Fernsehen die Hände reichten und in patriotischer Emphase feierlich umarmten, wahrte der russische Stadionsprecher die gebotene Sachlichkeit: "Deutschland kaputt", meldete er den Besuchern, nachdem der Schiedsrichter das Spiel beendet hatte.

Gut, es ist nicht zweifelsfrei bewiesen, dass er es so gesagt hat. Vielleicht hörte es sich nur so an in den Ohren der Augenzeugen. Aber es wäre auf jeden Fall die passende Formel gewesen, um diesen interessanten Abend in einem Schlusswort zu bündeln. Der Weltmeister ist zwar nicht irreparabel beschädigt worden, aber sein bewährtes Gebilde ist unter dem Einwirken der Mexikaner in vielerlei Bruchstücke und Einzelteile zerfallen. Bis Samstagabend 20 Uhr bleibt dem Bundestrainer Zeit, um das Gebilde wiederherzustellen oder, was jetzt wahrscheinlich die gemeine Frau und der gemeine Mann auf der Straße fordern, ein neues zu schaffen. Am Samstagabend trifft Deutschland in Sotschi auf Schweden, und dieses ehedem als gewöhnliches zweites Gruppenspiel angesehene Treffen hat auf einmal finalen Charakter.

Thomas Müller stellte dazu später zwei essenzielle Dinge fest: Erstens, sagte er, sei es für ihn und für die deutsche Nationalmannschaft "ungewohnt", mit null Punkten ins Turnier zu starten; "und zweitens ist das nicht das, was einen weiterbringt und durchatmen lässt". Als Müller diese Sätze sprach, war er nicht mehr der aus Funk und Fernsehen bekannte, stets gut gelaunte Gewinner-Müller, der den nächsten Etappensieg auf dem Weg zur nächsten deutschen Meisterschaft kommentiert, sondern ein Müller, der das Erschrecken und den wahren Ernst des Fußballer-Lebens kennengelernt hat. Diese Niederlage, betonte er, "setzt uns extrem unter Druck in den nächsten beiden Spielen". Das klang bei ihm wie: Deutschland in Abstiegsangst.

Löw hat in Moskau den Überblick vermissen lassen

Alle Welt fragt sich jetzt, wie diese erfahrene und mit erfolgserprobten Spitzenprofis besetzte Mannschaft einem so umfassenden Organisationsversagen zum Opfer fallen konnte. Zumal die Trainerstäbe neuerdings mit technischen Hilfsmitteln arbeiten dürfen. Tablet-Computer, Mobilfunk, Headsets, das ist jetzt alles erlaubt, und die Deutschen haben entschieden, dass auch sie sich nicht dem Fortschritt versagen möchten. Die Idee für den Sonntag war, dass der Assistenztrainer Marcus Sorg oben auf der Tribüne sitzt und seine Ansichten aus der Vogelperspektive an Assistenztrainer Thomas Schneider leitet, dem dann die Aufgabe zufällt, den neben ihm platzierten Cheftrainer zu informieren. Sorg sollte zum Beispiel per Screenshot einen Eindruck von den taktischen Mustern der Teams übermitteln, so hatte man sich das gedacht. Ob ihm das gelungen ist, das ist allerdings nicht bekannt.

Bekannt ist lediglich, dass Löw kein Anhänger von Big Data ist: "Ich schaue auf die Daten, schlafe eine Nacht drüber - und entscheide dann aus dem Bauch." Und bekannt ist, dass seine Scouts Christopher Clemens und Urs Siegenthaler wissen, dass sie ihn nicht belästigen dürfen: "Ich sage immer wieder meinen Leuten: Bitte überflutet mich nicht mit Informationen."

Bisher ist Löw mit seinen konventionellen Mitteln - zwei Augen, die sehen können - ziemlich weit gekommen. In Moskau aber hat er den Überblick vermissen lassen: Weder das System auf dem Platz noch dessen Steuerung jenseits des Platzes hat funktioniert. Dass sich bis zur Pause nichts änderte am elementaren Durcheinander, das erstaunte: so viele Trainer, so viel Fachwissen, so viel Erfahrung auf dem Platz, so wenig Handeln.

Jeder Besucher im Stadion konnte ohne iPad und ohne Fernglas sehen, wie sich Sami Khedira immer dort aufhielt, wo er nicht hingehörte, aber nie dort, wo er gebraucht wurde; wie Toni Kroos sich am Anfang kaum die Mühe machte, den Gegnern hinterherzulaufen, weil er womöglich glaubte, dass ihn auch beim DFB der getreue Casemiro absichern würde wie zu Hause bei Real Madrid. Und während der Verteidiger Joshua Kimmich stets jenseits der Mittellinie unterwegs war wie ein Rechtsaußenstürmer der alten Schule, besetzten Mats Hummels und Jérôme Boateng jeweils eine Doppelrolle: als zurückgelassene Innenverteidiger und nothalber als Aushilfssechser. So fiel auch das Tor: Vorne verlor Khedira den Ball, und der bis in die gegnerische Hälfte ausgerückte Hummels musste einen prekären Zweikampf mit Chicharito eingehen, den er prompt verlor. Im Strafraum fungierte dann auf einmal Mesut Özil als letzter Mann: So eine Kette von Verirrungen hätte sich kein Fachmann ausdenken können.

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Dieses krause Bild seiner Elf dürfte der Ausgangspunkt der Überlegungen sein, die Löw und seine Assistenten jetzt anstellen, um einen Plan für das Spiel gegen Schweden zu machen. Die Frage ist: Nähert er sich über Personalien, also durch den Tausch von Akteuren? Oder über eine Reform der Taktik? Da die Abwesenheit eines geordneten Mittelfeldspiels wesentlich zu den defensiven Problemen und neuralgischen Szenen beitrug, richtet sich der Blick vor allem auf den zuständigen Sicherheitsoffizier Khedira und dessen Rolle - beziehungsweise dessen Unterlassungen im Spiel. "Natürlich ist unsere Konteranfälligkeit offensichtlich, aber wir sind die letzten zwei Wochen nicht faul rumgelegen, sondern haben versucht, daran zu arbeiten", sagte ein führender DFB-Mann, der aber nicht Jogi Löw, sondern Thomas Müller hieß und der deutlich besser argumentierte, als er gespielt hatte. Dies sei nun mal "die Crux am Ballbesitzspiel", sagte er: dass die Kontergefahr steigt.

Am Vorrang des Ballbesitzspiels wird Löw gegen die Schweden nichts ändern, zumal der Gegner tendenziell auf Beton setzen wird. Löws Deutschland ist aber ab sofort nicht mehr bloß in der gewohnten Favoritenrolle, sondern dem Dilemma unterworfen, einerseits die Sicherung und Selbstverteidigung zu stärken und andererseits den Initialsieg fürs Turnier zu landen, der schon gegen Mexiko vorgesehen war.

Kommt Süle gegen Schweden?

Die Frage ist, wie viel Freiheit sich Joachim Löw nimmt, und wie viel Mut er aufbringt. Ändern um des Änderns willen, das lehnt er erfahrungsgemäß ab. Den machtbewussten Khedira aus dem Spiel zu nehmen, wäre nach diesem Abend konsequent, aber für das Betriebsklima nicht ungefährlich; abgesehen davon, dass Khedira seit 2010 eine der bevorzugten Leitfiguren des Bundestrainers ist und kürzlich erst für "unentbehrlich" erklärt wurde. Zudem würde Löw die möglichen Gegenkandidaten Leon Goretzka oder Sebastian Rudy in eine Rolle drängen, die ihnen nur annähernd entspricht; die Namen Lars Bender oder Christoph Kramer finden sich im Kader nicht. Auch denkbar: Den nach Einfluss strebenden Kimmich ins Mittelfeld zu versetzen, selbst wenn dadurch an anderer Stelle ein Loch entstünde.

Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, Niklas Süle in die Deckung einzureihen und eine Dreierkette zu bilden, was allerdings zur Selbstlimitierung geraten könnte gegen eine mutmaßlich defensive und eher sturmschwache schwedische Mannschaft. Der Einsatz von Ilkay Gündogan hingegen, der defensive Qualitäten besitzt und die Ballhoheit im Mittelfeld steigern könnte, wäre ein umfassend attraktiver Ansatz. Nur: Wie ist es in diesen Tagen um Gündogans Gemüt bestellt nach den Ressentiments, denen er wegen der Erdoğan-Fotoaffäre ausgesetzt war?

Löws Reparaturarbeiten am sicher nicht kaputten, aber lädierten Deutschland werden sich wohl nicht auf ein paar Handgriffe beschränken.

© SZ vom 19.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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