Rollstuhlrugby:"Rippenbrüche zählen nicht"

Max Haberkorn Rollstuhlrugby Munich Rugbears

Auch im Training immer in Erwartung des entscheidenden Passes: Rollstuhlrugbyspieler Max Haberkorn startet los.

(Foto: Robin A. Köhler/OH)

Max Haberkorn hat zum zweiten Mal die Meisterschaft gewonnen - obwohl er an der Glasknochenkrankheit leidet.

Von Robin A. Köhler

18 Kilogramm Aluminium, ein Sicherheitsgurt und zwei Hochdruckreifen sind alles, was den gebrechlichen Körper auf dem Spielfeld vor der Katastrophe bewahrt. Acht Kämpfer rammen, blockieren und umkreisen sich dort in ihren stählernen Gefährten. Sie schauen sich um, wenden und donnern ineinander - immer auf der Jagd nach einem Melonen-großen Ball, der jede Bewegung zu bestimmen scheint. Und mitten durchs Chaos kurvt ein Mann, dessen Körper in 31 Jahren schon mehr als einhundert Brüche überstanden hat.

Die anderen Spieler im Rollstuhlrugby nennen Max Haberkorn Freak. Weil er nicht wie sie querschnittsgelähmt ist oder amputierte Gliedmaßen hat. Der Freak kann sich besser bewegen als seine Mitspieler, doch er verletzt sich auch schneller. Im Sommer hat Haberkorn mit seinem Team, den Munich Rugbears, zum zweiten Mal die deutsche Meisterschaft gewonnen. Vielen ist die Sportart völlig unbekannt, nur 350 aktive Spieler gibt es in Deutschland. Für Haberkorn bedeutet der hart erkämpfte Triumph alles.

"Autoscooter für Bekloppte" nennt Haberkorn seinen Sport

Sein Gefährt erinnert an die Stockcar-Version eines Rollstuhls: Die rundliche Stoßstange an der Front scheint wie von Hand angeschweißt zu sein. Die Räder links und rechts sind mit einer klebrigen Substanz beschmiert, die den Halt verbessert. Im Gefährt sitzt ein kompakter, breit gebauter Mann mit Drei-Tage-Bart. Muskulatur und Rollstuhl bilden zusammen eine wendige Einheit für den Kampf auf Rädern. "Autoscooter für Bekloppte", sagt Haberkorn, wenn er Rollstuhlrugby erklären muss. Zwei Teams von vier Spielern müssen einen Ball über die gegnerische Torlinie befördern. Ein Angriff dauert 40 Sekunden, alle zehn Sekunden muss der Ballführer dribbeln, ein Rückspiel ist nicht erlaubt. Außer Haberkorn gibt es weltweit kaum jemanden, der trotz Glasknochenkrankheit Rollstuhlrugby spielt.

Den Gendefekt Osteogenesis Imperfecta hat er von seinem Vater. Durch eine Bindegewebsstörung können Menschen mit Glasknochen kein Kalzium aufnehmen, das der Körper für den Aufbau der Knochen benötigt. "Richtig schlimm ist es in der Pubertät", sagt Haberkorn. Bis zu zwanzig Brüche hatte er pro Jahr - den Großteil der Jugend verbrachte er im Krankenhaus.

Haberkorn wuchs in einem Außenbezirk von München auf, sein Freundeskreis bestand lange nur aus Fußgängern - wie Rollstuhlfahrer Menschen nennen, die laufen können. "Bei jeder Treppe war klar, dass einer den Rollstuhl trägt, und ich rappel mit dem Hintern hoch." Die Selbstständigkeit hat er schon früh gelernt, sagt er. Auch wenn sein Hosenverschleiß dadurch gestiegen sei. Die einzigen Rollstuhlfahrer, die Haberkorn damals kannte, waren Sportler: Sein Vater spielte in der zweiten Bundesliga Rollstuhl-Basketball. Haberkorn begann den Sport mit acht Jahren selbst zu spielen: "Das waren Vorbilder. Wenn die auf den Boden flogen, hockten die sich wieder rein und spielten einfach weiter." Er kann es nicht leiden, wenn Rollstuhlfahrer über ihr eigenes Elend jammern: "Ich habe lieber neun Monate im Jahr Spaß und liege drei im Krankenhaus." Mitte Mai führte Haberkorn die Munich Rugbears im Meisterschaftsfinale gegen die Mannschaft aus Illerrieden. Der Kapitän der Münchner spielte mit zwei gebrochenen Rippen. Sein Arzt hatte ihm geraten, nicht anzutreten. "Es geht um die deutsche Meisterschaft", hatte Haberkorn erwidert. Sein Team gewann 49:45.

Zum Rugby kam Haberkorn durch einen weiteren Bruch in seinem Leben. Seine Basketball-Karriere hatte ihn in die zweite Bundesliga befördert, die Chancen bald in der ersten zu spielen, standen gut. Doch 2008 fiel er in der Berufsschule aus seinem Rollstuhl. Mit den Unterarmen versuchte er den Sturz abzufangen, aber die Knochen konnten sein Körpergewicht nicht tragen - in beiden Unterarmen brachen Elle und Speiche. Im Krankenhaus hatte Haberkorn die Wahl: mehrere Operationen über sich ergehen lassen oder die Oberarme nur noch eingeschränkt heben und rotieren zu können. Er entschied sich gegen die OPs. Doch ohne seine Arme komplett bewegen zu können, hatte er im Basketball keine Chance. Seine Karriere, die gerade beginnen sollte, endete abrupt.

Während er Basketball dann nur noch in unteren Ligen spielte, entdeckte er Rollstuhlrugby. "Am Anfang waren alle schockiert. Viele dachten, sie könnten mich nicht attackieren", sagt er. Aber "nachdem ich meinen Gegnern ein paar Mal den Ball geklaut habe, sind die auch in mich reingekachelt". 2010 gab er sein Debüt in der Nationalmannschaft.

Aber der Sport bleibt gefährlich. Etwa dreißig Mal ist Haberkorn beim Rugby schon aus dem Rollstuhl geflogen. Schwere Verletzungen hat er aber noch keine erlitten - bis auf Rippen- und Fingerbrüche. "Aber die zählen nicht", sagt Haberkorn und grinst. Wenn Brüche nicht splittern, geht er nicht mehr zum Arzt: "Der Verrückte legt mir nachher noch einen Gips an." Zu seinen besten Zeiten hat Haberkorn an 40 Wochenenden im Jahr auf Turnieren gespielt. Seit er nicht mehr fürs Nationalteam spielt, sind es 25. Eine längere Auszeit mit Gips kann er sich da nicht leisten.

Der Sport gibt Haberkorn etwas, was er woanders nicht bekommt

Auf dem Spielfeld will Haberkorn seine Glasknochen komplett ausblenden. Er redet von Instinkt, Handeln und Intuition. So richtig los lässt ihn seine Krankheit aber nie: "Wenn wir mit zehn Toren führen, dann spiele ich auch mal vorsichtig, bevor ich als Scherbenhaufen ende." Bei wichtigen Spielen gehe er jedoch jedes Risiko ein, um den entscheidenden Pass zu fangen. Blessuren gehören zum Alltag. Auch den Meisterschaftspokal hat er mit vielen Schmerzen bezahlt, seine Rippen brauchen noch Zeit, um zu verheilen. Doch das stört Haberkorn wenig. Sein Sport gibt ihm etwas, was er woanders nicht bekommt: "Wir Rolli-Fahrer können nicht einfach eine Stunde rennen gehen, wenn wir Wut im Bauch haben. Beim Rugby kannst du auch mal deinen Frust abbauen." Solange er Leistung bringen kann, will er weitermachen.

Der nächste Familienurlaub führt Haberkorn ins Disneyland nach Paris. Während Rollstuhlfahrer in Deutschland keine Achterbahnen fahren dürfen, ist es für Haberkorn in Frankreich sogar kostenlos. Er musste nur eine Eigenverantwortungs-Erklärung unterschreiben. Haberkorn hat nicht gezögert.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: