Rhythmische Sportgymnastik:Einheit mit Nerven

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Stark mit Keulen und Reifen: A. Khmelnytska, R.Tokmak, D.Saifutdinova und D. Potapova (v.l.). Nicht auf dem Bild: S. Tkaltschewitsch. (Foto: Bernd Weißbrod/dpa)

Die deutschen Gymnastinnen müssen sich für Rio nachqualifizieren. Für mehr Stabilität soll in erster Linie mehr Ruhe sorgen.

Von Volker Kreisl, Stuttgart

Zeit, um zu denken, ist nicht, manchmal nicht mal Zeit, um zu schauen. Beim Auftritt einer Gymnastik-Gruppe turnen und tanzen fünf Athletinnen synchron auf der Matte. Dabei sollen Bewegungen, Schritte und Geräte-Würfe so schnell ineinander greifen, dass Zuschauer und Kampfgericht vom Effekt überrascht werden. Der Auftritt der fünf Gymnastinnen verschmilzt also zu einem einzigen Körper, der den Ablauf seiner Bewegungen instinktiv kennt. Wie aber soll dieser Körper reagieren, wenn ein Teil von ihm den entscheidenden Fehler begeht?

Die deutsche Gymnastik-Gruppe hat bei der Weltmeisterschaft in Stuttgart ihr großes Saisonziel verpasst. Anders als die Einzelgymnastinnen Jana Berezko-Marggrander und Laura Jung hatte die Gruppe von Trainerin Natascha Stepanova sehr gute Aussichten, sich mit einem Platz unter den besten Zehn direkt für die Olympischen Spiele in Rio 2016 zu qualifizieren. Die Entscheidung stand im zweiten Durchgang in der Übung mit fünf Bändern an. Aber dann fiel schon nach einer halben Minute das erste Band zu Boden, was bewertungstechnisch einem Sturz gleichkommt. Diesen einen massiven Abzug hätte die deutsche Gruppe vielleicht noch mit viel Ausstrahlung kompensieren können, nicht aber die beiden nächsten, jeweils wieder nach verbotenem Gerätesturz. Die gute Ausgangsposition half nichts mehr, die Deutschen fielen zurück und verpassten am Ende ihr großes Ziel. Nun müssen nicht nur die Einzelgymnastinnen, nun muss auch das Team seine letzte Chance beim Test-Event in Rio nutzen.

Dabei sind die Begriffe Team oder Mannschaft in der Rhythmischen Sportgymnastik nicht ganz zutreffend. Die Spieler in einem Team sind austauschbar, in der Gymnastik funktioniert das nicht so ohne weiteres. Auf dem Platz steht ein Ensemble, das im besten Fall das ganze Jahr über zusammen ist. Das zusammen arbeitet, übt, wohnt. Für RSG-Gruppen ist die duale Karriere, also ein Studium neben dem Training, deshalb auch nicht möglich, außer man macht es wie die Brasilianerinnen, die alle an dieselbe Hochschule gingen.

Eine Gruppe ist also kein Team sondern eine geschlossene Einheit, und weil Kapitänin Rana Tokmak, 19, behauptet, das deutsche Team halte besonders gut zusammen, gab es nach den Rückschlägen von Stuttgart auch keine Schuldzuweisungen. "Die Band-Übung war riskant, diese Fehler hätten jeder von uns passieren können" sagte Tokmak. Und als Daniela Potapova, 19, dann doch die Tränen überkamen, wurden diese von der Hand einer Kollegin aus ihren Augen gewischt. Auch das sah irgendwie synchron aus.

Ähnlich soll nun auch die technische Aufarbeitung des WM-Auftritts erfolgen. "Die erste Übung war sehr gut, bei der zweiten fehlte es uns an Stabilität", sagte Teamchefin Katja Kleinveldt. Die erste Übung war sogar technisch anspruchsvoller, weil statt fünf gleichen Geräten mit zwei Reifen und drei Keulen hantiert wurde. Die möglichst riskanten Würfe zwischen den Gymnastinnen sind dabei schwieriger. Immerhin, in diesem ersten Durchgang hatte die Gruppe um Tokmak eines ihrer besten Ergebnisse erreicht. Und für die langen dunklen Wintertage in der Gymnastikhalle hat sie zumindest die Erkenntnis, dass die technischen Grundlagen passen. Was fehlt, ist Routine und Abgebrühtheit - Eigenschaften, die andere Spitzensportler sonst frühestens ab Mitte Zwanzig entwickeln, in einem Alter, in dem Gymnastinnen längst schon wieder aufgehört haben.

Der Plan sieht nun also mehr Zeit vor. Für das Projekt Rio, das ja nicht nur die Qualifikation, sondern auch ein Erfolgserlebnis bei Olympia, im besten Falle einen Ansporn für die dahinter anstehenden Talente einbringen soll, wird zunächst mehr Zeit gebraucht. Zeit, die Tokmak, Potapova, Darja Sajfutdinova, Anastasia Khmelnytska, Julia Stavickaja und Sina Tkaltschewitsch abhanden gekommen war, weil die Gruppe im vergangenen Jahr sechs Mal umgestellt wurde. Nun muss sie sportlich noch weiter zusammenwachsen. Die Gymnastinnen werden in Absprache mit der Schule daher weitgehend vom Unterricht befreit, aber sie müssen deshalb nicht unbedingt viel mehr trainieren. Denn Tokmak erklärt: "Wir trainieren ohnehin schon bis zu 40 Stunden in der Woche, mehr bringt nichts."

Es geht um etwas anderes, es geht um die richtige Ruhe. Katja Kleinveldt sagt: "Die Gymnastinnen werden jetzt mehr Zeit haben, um zu regenerieren, das ist ein ganz wichtiger Faktor." Die wenigen Stunden, um die der Alltag jeder Einzelnen nun reicher ist, dienen also der Konzentration, und vielleicht fährt dann auch der ganze Gruppenkörper mit stabiler Psyche zu den Wettkämpfen in Rio.

© SZ vom 14.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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