DFB-Team:Marco Reus verkörpert die Euphorie

  • Timo Werner schwärmt nach dem Spiel gegen Schweden von seinem Nebenmann Marco Reus - und der ist seit dem 2:1 mit einem Dauerlächeln unterwegs.
  • Kenner hatten vor vier Jahren vermutet, Reus werde in Brasilien einer der großen Stars des Turniers werden, nun könnte sich die Prophezeiung mit Verspätung bewahrheiten.
  • Einerseits verkörpert Reus die Euphorie eines Mannes im Glück, andererseits die Cleverness eines reifen Spitzenprofis.

Von Philipp Selldorf, Watutinki

Weinende Männer auf Fußballplätzen, das ist bei dieser WM ein gewohntes Bild. Oliver Kahns Appell neulich beim Champions-League-Finale, auf öffentliches Heulen zu verzichten ("das kann man doch auch später machen"), hat dem Alt-Internationalen heftige Reaktionen beschert, aber die gewünschte Wirkung auf die später geborenen Kollegen blieb aus. Schlimm für Kahn: In den russischen WM-Stadien wird mehr geweint als je zuvor.

Die Motive sind unterschiedlich. Der eine weint, weil er einen historischen Ehrentreffer für sein Vaterland geschossen hat (Panamas Felipe Baloy); der andere, weil ihn schon das Abspielen der Nationalhymne dazu bewegt (Tunesiens Nationaltrainer Nabil Maaloul); der dritte, weil er erleichtert ist, dass ihm Peinlichkeiten erspart blieben (Brasiliens Neymar nach dem 2:0 gegen Costa Rica); der vierte, nachdem er bei seiner WM-Premiere den ersten Sieg feiern durfte (Nigerias Leon Balogun). Wer hingegen noch nicht geweint hat, das ist ein Mann, der dazu wirklich gute Gründe hätte.

Allein seine Gegenwart im deutschen WM-Quartier müsste Marco Reus, 29, zu großen Gefühlen animieren, nachdem er wegen Verletzungen acht Jahre auf den Einstieg in den Worldcup hatte warten müssen. Einstweilen besteht seine sichtbare Reaktion aber bloß in einem stillen Lächeln, das sich immerhin in ein Dauerlächeln verwandelt hat. Es sei "eine persönliche Erleichterung" dabei zu sein, hat Reus am Montag gesagt - für seine Verhältnisse ein Freudenschrei. "Die WM zu erleben, das ist ein Gefühl, das kann man gegen kein Geld der Welt eintauschen" - das hat allerdings nicht Marco Reus, sondern der Debütant Timo Werner, 22, gesagt. Bundesliga, Champions League, beides großartig, "aber die WM ist noch mal ganz was anderes". Auch das hat Werner gesagt, doch Reus dürfte es genauso sehen.

Kenner hatten vor vier Jahren geweissagt, Reus werde in Brasilien einer der großen Stars des Turniers werden, in Dortmund war man damals deswegen nicht unbesorgt - man fürchtete um den Erhalt des Lokalhelden. Nun könnte sich die Prophezeiung mit Verspätung bewahrheiten. Jogi Löw hat sich zwar ein wenig Zeit damit gelassen, den Angreifer ins Turnier einzuführen - viele seiner zig Millionen Bundestrainer-Kollegen in der Heimat hätten es anders gemacht -, aber der Betroffene hat glaubhaft versichert, er sei deswegen nicht beleidigt gewesen. Reus ist so dankbar für sein spätes Glück als WM-Fußballer, dass er am liebsten alle Mitspieler daran teilhaben lassen möchte.

Dass Özil demnächst wieder Zugang zur Startelf findet, ist zu erwarten

Während in Deutschland die Fachwelt davon schwärmt, wie er sich auf der Position des Spielmachers einrichtete, schwärmt Reus von Mesut Özil, dessen Spielmacherposten er im Zuge der Umstellungen gegen Schweden übernommen hatte ("spielerisch einer der besten Spieler der Welt"). Dass Özil demnächst wieder Zugang zur Startelf findet, ist zu erwarten. Aber dass Reus deswegen auf die Bank rotiert, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein Verstummen von Lothar Matthäus. Löw wäre ein sehr seltsamer Trainer, wenn er Reus bremsen würde.

Einerseits verkörpert Reus die Euphorie eines Mannes im Glück, andererseits die Cleverness eines reifen Spitzenprofis. Dass Timo Werner gar nicht wusste, wie er genug Gutes über seinen Nebenmann sagen sollte ("ein Weltklasse-Spieler!"), das beruht in gewisser Weise auf Gegenseitigkeit. Reus und Werner waren die beiden, die das deutsche Team nach vorn gezogen haben, während Toni Kroos und Jérôme Boateng es von hinten schoben. Wenn sie nicht aufpassen, dann tauchen die beiden bald in der bunten Illustrierten auf: als neues deutsches Traumpaar.

Man hat Reus am Dienstag auf den Vorrunden-Fluch der Titelverteidiger angesprochen, auf das Ausscheiden des Weltmeisters Frankreich 2002, des Weltmeisters Italien 2010 und des Weltmeisters Spanien 2014, aber diese Provokation musste Reus als Witz auffassen; er ist ja nicht Weltmeister geworden vor vier Jahren, obwohl ihn Jogi Löw und viele andere dazu ausersehen hatten. Reus hat viel vor in Russland, das steht fest, und das hat er dann auch mitgeteilt: "Sie können sicher sein", sagte er, "dass wir am Mittwoch alles tun werden, damit das nicht wieder passiert." Große Worte für diesen stillen Mann.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: