René Adlers Debüt in der Nationalmannschaft:Sehnsucht nach Siegfried

Ein Hauch von Ära: Die offizielle Ernennung steht noch aus - doch das Publikum hat sich nach nur einem Länderspiel auf René Adler als neue Nummer eins geeinigt.

Christof Kneer

Vielleicht wird man diese Pressekonferenz irgendwann noch einmal zu sehen bekommen. Vielleicht wird nach der WM 2022 ein jetzt noch in der Grundschule befindlicher TV-Redakteur ins Archiv hinuntersteigen und mit einer kleinen Kostbarkeit ans Tageslicht zurückkehren.

René Adlers Debüt in der Nationalmannschaft: Viel versprechendes Debüt: Rene Adler gegen Russland.

Viel versprechendes Debüt: Rene Adler gegen Russland.

(Foto: Foto: AP)

Zum Beispiel mit einer Videoaufzeichnung vom Oktober 2008, auf der der junge Torwart René Adler zu sehen ist, wie er in einem Dortmunder Pressezelt sitzt und artige Sätze sagt. "Die Mannschaft hat mich super aufgenommen", hört man ihn dann sagen, und dass er "das Erlebnis aufsaugen wollte, in diesem Fußballtempel mein Debüt feiern zu dürfen".

Dann kommt vielleicht ein Schnitt, man sieht den 37-jährigen Adler in einem Studio sitzen und sich prächtig amüsieren über die alten Bilder. René Adler hat dann vielleicht gerade seine Karriere beendet, nach vier WM-Turnieren und 124 Länderspielen. Und vielleicht wird dann noch ein 45-Jähriger namens Robert Enke zugeschaltet, der den jüngeren Zuschauern erklärt, dass er auch mal ein paar Länderspiele gemacht hat.

Nein, die Torhüterfrage ist noch nicht entschieden beim DFB, aber es fühlt sich so an. Ein Hauch von Ära lag am Samstagabend in der Luft: Wer diesen Adler nach dem Spiel gegen Russland im Pressezelt sitzen sah, der spürte, dass er dieses Bild demnächst wohl häufiger zu sehen bekommt.

Da saß ein junger Mann, der so souverän war, dass man ihm sogar die demütigen Bescheidenheitsfloskeln abnahm, aber hinter der Bescheidenheit ließ sich deutlich heraushören, dass dieser Bursche das deutsche Tor so schnell nicht mehr rauszurücken gedenkt. "Ich sehe dieses Spiel als wichtigen Baustein in meiner jungen Karriere", sagte Adler, "auf dieses Ziel habe ich hingearbeitet, ihm habe ich viel geopfert."

Ein einziges Länderspiel lang hat René Adler, 23, bisher das DFB-Tor bewacht, und er hat sich sogar einen Treffer gefangen, bei dem er zumindest nicht wie ein viermaliger WM-Teilnehmer aussah. "Eine unglückliche Situation", sagte der Perfektionist Adler über jenen Querschuss, der ihm vor dem 2:1 durch die Beine rauschte. "Mit etwas Glück kann ich den zur Ecke lenken." Aber wer je in die Nähe eines Balles gekommen ist, weiß, dass es auch unter den unglücklichen Toren haltbare und unhaltbare gibt. Dieses zählte zu den unhaltbaren.

Am Ende steckte in diesem Abend genau jene Eigendynamik, vor der sich die Rivalen stets gefürchtet hatten: "Re-ne Ad-ler", riefen die Zuschauer schon beim Warmmachen, und als der viersilbige Mensch einen Ball um den Pfosten drehte, brüllte das ganze Stadion. Das Stadion steht in Dortmund übrigens, René Adler spielt in Leverkusen, und von einer Fanfreundschaft ist nichts bekannt.

Gegen René Adler kann man sich nicht wehren, wahrscheinlich ist das einfach so. Wahrscheinlich kommt er jetzt über Deutschland, so wie er einst über Leverkusen kam. Natürlich ist Adler ein kolossal begabter Torwart, der die Geschmeidigkeit der neuen Generation mit der Robustheit der alten Garde mischt, aber darüber hinaus strahlt er offenbar etwas aus, wofür dieses Torwartland besonders empfänglich ist.

Es herrscht offenbar eine große Sehnsucht nach diesem jungen Siegfried, den auch Menschen hochleben lassen, die nie ein Spiel von ihm gesehen haben und auch nicht wissen, dass Adler aus einer Leipziger Sportfamilie stammt.

Deutschland hat sich jetzt auf Adler geeinigt, auch wenn das natürlich ungerecht ist gegenüber dem hochseriösen Robert Enke oder dem ebenfalls umfassend veranlagten Manuel Neuer. Aber diese beiden und alle anderen werden es ab sofort sehr schwer haben gegen den vereinten Volkswillen, der außerdem von einer entscheidenden Gruppe geteilt wird: von jenen Deutschen nämlich, die vor Adler auf dem Fußballfeld stehen.

Nach dem Abpfiff sind die Spieler sofort zur Gratulationsrunde Richtung Torwart aufgebrochen, der zuvor zwei prächtige Reaktionen gezeigt hatte, die nicht in die Statistik eingingen (weil zuvor Abseits gewinkt wurde), die aber trotzdem jeder gesehen hatte. "Rene hat nicht nur mit unglaublicher Sicherheit Bälle abgefangen, sondern auch hervorragend mitgespielt. Es ist gut, so einen Torwart hinter sich zu haben", lobte Bastian Schweinsteiger. Spieler spüren es vermutlich, wenn große Karrieren beginnen.

Natürlich wird Adler am Mittwoch gegen Wales spielen, auch sein Einsatz gegen England (19.11.) gilt als abgemacht. Ob - eher: wann - er zur Nummer eins erklärt wird, ist noch offen, zumal Adler auch eine kleine Schwäche hat: Er hat eine anfällige Schulter - wie der Siegfried aus der Sage.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: