Fußball-WM:Hype um Sotschi, tolerantes Kasan

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Reisen zur WM nach Sotschi lohnt sich: Abenddämmerung auf der Strandpromenade vor dem Olympiastadion "Fisht". (Foto: dpa)
  • Wer die deutschen WM-Spielorte entdecken will, kann sich freuen.
  • Moskau, Sotschi und Kasan sind lebenswerte, aufregende und interessante Städte im russischen Riesenreich.
  • Ein paar Hinweise und Empfehlungen von SZ-Korrespondentin Eva Steinlein.

Von Eva Steinlein, Moskau

Wer zum ersten Mal in Moskau ankommt, versteht nichts - daran können weder Russischkenntnisse etwas ändern noch die "wolontjori" genannten ehrenamtlichen Helfer mit ihrem beflissenen Englisch, die für die WM-Gäste zur Hilfe abkommandiert wurden. Russlands Hauptmoloch mit offiziell zwölf Millionen Einwohnern ist weniger eine Stadt als ein Ereignis, von dem man sich am besten überwältigen lässt.

Die typischste aller Moskauer Erfahrungen ist deshalb eine Fahrt mit der Metro: Millionen Menschen aller Altersgruppen, Schichten und Herkunftsländer nutzen die U-Bahn, die seit ihrer Eröffnung in den Dreißiger Jahren auf ein oktopusförmiges Netz angeschwollen ist. Wer zwischen den Leuten etwas von der sowjetischen Pracht aus Marmor, Stahl und Wandmosaiken erspähen will, tut gut daran, seine Erkundungstour nicht vor neun Uhr vormittags anzutreten. Davor und zwischen 17 und 19 Uhr ist nämlich "Tschas Pik", Rush Hour.

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Zumindest dem Trubel rund um die Fußball-WM an den Stadien "Luschniki" und "Spartak" sowie auf dem Fanfest zu Füßen der Staatlichen Universität MGU lässt sich aber mit einem Rundgang durch das Zentrum enfliehen - und der beginnt am besten an der Metrostation Lubjanka. Dort stehen einander zwei Bauwerke gegenüber, die den Zerfall der Sowjetunion überdauert haben: zum einen das "Detski Mir", "Kinderwelt", genannte Spielzeugwarenhaus, das seit einem Betreiberwechsel offiziell nicht mehr so heißt und neben Puppen ganz selbstverständlich auch Panzer im Sortiment hat.

Zum anderen das einstige Hauptquartier des Geheimdienstes KGB, in dem unter anderem der spätere Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn inhaftiert war. Jahrzehntelang wurden in dem gelben mehrstöckigen Gebäude auch Hinrichtungen vollstreckt. Nostalgie und Schrecken - für viele Russen gehört beides so unmittelbar zur Erinnerung an die Sowjetunion wie an diesem Platz.

Von der Lubjanka aus lässt sich zu Fuß am Bolschoi Theater vorbeispazieren - dem Heimattheater des Moskauer Bolschoi-Balletts, an dem auch Opern aufgeführt werden. Seine auslandenden Grünanlagen beharken unermüdliche "Gastarbeitery" aus den Stan-Ländern Zentralasiens, die von den meisten Moskauern mit Geringschätzung behandelt werden. Leicht versetzt, aber unübersehbar steht nebenan das Luxuskaufhaus ZUM. Unter Jugendlichen genießt der Konsumtempel solches Prestige, dass sie es auf Instagram millionenfach als Besuchsort markiert haben. So manche Studentin kauft dort etwas Kosmetik - und trägt dann stolz ihre Bücher und Hefte in einer Tüte mit ZUM-Logo in die Uni.

Der Moskauer geht zum Georgier

Ausgiebige Shoppingtouren erledigt man besser im unterirdischen Einkaufszentrum "Ochotniy Rjad" am anderen Ende des Theaterprospekts. Von dort aus blicken Besucher direkt auf das rote, zweitürmige Auferstehungstor, durch das sie den Roten Platz betreten können. Hinter den Mauern auf der rechten Seite liegt der Kreml, gegenüber das Warenhaus GUM - und in Blickrichtung die Basiliuskathedrale, die wegen ihrer bunten Zwiebeltürme auch "Steinerne Blume" genannt wird und für Russland fast so häufig als Symbol herhalten muss wie Matrjoschka-Holzpuppen.

Zwischen selfieschießenden Touristen hindurch Richtung Süden geht es zur Brücke, auf der 2015 Boris Nemzow erschossen wurde - an den Oppositionspolitiker erinnern an der Brüstung niedergelegte Fotos und Blumen und die dezenten Beobachter, die einander in einer informellen Wache ablösen, damit kein städtisches Reinigungsfahrzeug sein Gedenken wegfegt. Von der Nemzow-Brücke aus lohnt ein Blick nach rechts: Jenseits der Moskwa steht dort die Christerlöserkirche mit ihrem goldenen Kuppeldach, in der 2012 die Aktivistinnengruppe "Pussy Riot" ihr Sturmmaskengebet aufführte.

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Wer hungrig ist, der kann sich in einer Filiale der Restaurantkette "Mu Mu" durch die Klischees probieren - Borsch, Pelmeni, Blini - oder dort essen, wo es einem alle Moskauer ohne zu zögern empfehlen werden: beim Georgier. Die georgische Küche galt schon zu Sowjetzeiten als "haute cuisine" des Ostens und hat Vegetariern gleichermaßen viel zu bieten wie Anhängern der Paleo-Diät. Fündig wird man auf jeden Fall im Dreieck zwischen Tretjakow-Galerie, dem Gorki-Park und der Souvenirjäger-Meile Arbat.

Am frühen Abend sind die Moskauer im Sommer üblicherweise zu einem Spaziergang verabredet - so erklärt sich, dass "spazieren gehen" und "ausgehen" im Russischen Synonyme sind. Besonders romantisch flanieren lässt sich entlang der "Sauberen Teiche" (russisch Tschistie Prudy), die vor der Renovierung durch Fürst Menschikow eigentlich "Schmutzige Pfützen" hießen, oder entlang der "Patriarchenteiche" im Nordwesten. Liebhaber der Sowjetarchitektur fahren mit der Metro - Achtung, Tschas Pik! - in den Norden zur Station ВДНХ, die ausgesprochen klingt wie "We-De-En-Chaaa" und ausgeschrieben "Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft" heißt.

Der ausladende Park beherbergt neben mehreren Ausstellungspavillons und dem Brunnen der Völkerfreundschaft, auf dem jede Frauenstatue eine Nation der früheren Sowjetunion verkörpert, auch einen ganzjährigen Rummelplatz und ein Reitzentrum. Dass der Park seit Jahren renoviert wird und voller kleiner Baustellen ist, macht den Moskauer Abendspaziergang dort erst richtig authentisch.

"Was heute Bauarbeiten sind, ist morgen Geschichte" - der Slogan, mit dem der We-De-En-Chaa auf seiner Seite um Verständnis wirbt, sagt viel über das russische Verhältnis zu Architektur und Stadtplanung aus. Und er trifft auch auf Sotschi zu, den zweiten WM-Spielort der deutschen Nationalmannschaft.

Vor den Olympischen Winterspielen 2014 wurde die Stadt am Schwarzen Meer, die strenggenommen aus mehreren Orten entlang der Küste besteht, aufwändig auf Weltniveau getrimmt - oder auf das, was sich Russlands Führung darunter vorstellt. Wer vier Jahre später vom Flughafen an Palmen und Leuchtreklame vorbei stadteinwärts fährt, wähnt sich erst in Los Angeles und dann am Bahnhof Sotschi in einem Mittelmeer-Badeort, so südlich und voller Sonnenhüte und Sommerkleider ist dort das Flair. Immerhin liegt Sotschi ja auf dem gleichen Breitengrad wie Nizza oder Rimini.

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Der selbstverstärkende Hype um die "russische Riviera" hat längst auch Gewerbetreibende aus den Nachbarländern angezogen: Armenier machen allein ein Fünftel der seit 2014 deutlich gestiegenen Einwohnerzahl aus. Wer ein ortstypisches Essen probieren möchte, isst deshalb am besten Schaschlik. Die langen Grillspieße mit Fisch, verschiedenen Fleischsorten oder Pilzen kommen ursprünglich aus Armenien und werden entlang der Uferpromenade verkauft, an der Souvenirhändler Sonnenbrillen oder Putin-Taschen anpreisen.

Stadionbesucher blicken je nach Platz auf den Strand oder ins Gebirge

Ob sich die Errichtung der teuren Wintersportstätten in Sotschi gelohnt hat? Danach fragt niemand mehr. Was in Russland politisch gewollt ist, ist zum Erfolg verdammt. So wie das Stadion "Fischt" im 30 Kilometer entfernten Adler, in dem die deutsche Elf gegen Schweden antritt: Für die olympische Eröffnungs- und Schlusszeremonie wurde es errichtet, für die WM 2018 aufwändig umgebaut. Tausende Tonnen Stahl aus der Dachkuppel mussten den Regularien der Fifa weichen. Stadionbesucher blicken nun je nach Tribünenplatz entweder auf den Strand oder ins Gebirge.

Im Olympischen Park, zu dem das "Fischt" gehört, fahren heute Ausflügler auf Mietfahrrädern zwischen Imbissbuden und den meist leeren Arenen hin und her - ein Anblick, der in sich so absurd und sehenswert ist wie der totalitär anmutende "Medals Plaza". Die fast 50 Meter hohe Fackelstatue ist längst erloschen, aber noch immer rahmt den Zeremonienplatz ein meterhohes Fahnenspalier. Im September heißt der Olympiapark "Autodrom" - dann fahren dort die Formel-1-Wagen zwischen den Sportstätten um den "Großen Preis von Russland".

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Auf halbem Weg zwischen Sotschi und Adler liegt ein waldgrünes Sommerhaus, nach dem sich Interessierte unter dem Begriff "Datscha Stalina", Stalins Datscha, durchfragen können. Besuchern seines Sommerhauses blickt Stalin, "der Stählerne", der auf einer anderen Datscha bei Moskau starb, heute als Wachsfigur am Schreibtisch entgegen. Der sowjetische Diktator begründete den Ruf Sotschis als Erholungs- und Feriendomizil für alle. Bis heute wird das Wort "Kurort", allerdings auf der hinteren Silbe betont, auch im Russischen verwendet.

Der nächste place to be in Russland kündigt sich allerdings 2000 Kilometer weiter nördlich an: in Kasan, dem dritten Vorrunden-Spielort der deutschen Nationalmannschaft. Von Moskau aus erreicht man die sechtsgrößte russische Stadt am besten per Nachtzug. Wer dort nach einer Fahrt im "Coupé" genannten Viererabteil zerknittert auf dem adretten Bahnhofsvorplatz ankommt, stellt fest: Trotz fleißiger Betriebsamkeit wirkt Kasan gelassen und weniger umständlich als andere russische Städte.

Kasan ist stolz auf seinen Status als Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan und betont seine eigenständige Kultur, wenngleich ihre Sonderrechte vom Moskauer Kreml aus immer weiter beschnitten werden. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind muslimisch geprägte Tataren, denen in Russland ein Ruf als fleißige und unaufdringliche Gastgeber vorauseilt. Manch ein Besucher übersieht da, dass er die Zurückhaltung der Kasaner bei Fehltritten nicht immer mit Zustimmung verwechseln darf: Ob WLAN-Passwort, Sonderwünsche beim Essen oder fehlendes Kleingeld - Gästen der Stadt schlägt fast niemand etwas ab, denn ein Mangel an Großzügigkeit könnte ja den guten Ruf kosten.

So berühmt wie die Gastfreundschaft ist auch die tatarische Küche, die sich entweder in Restaurants wie dem "Haus der tatarischen Kulinarik" zelebrieren oder bei der Fastfood-Kette "Tubatay" verkosten lässt. Kenner bestellen "Etschpotschmack" genannte Dreiecke aus Teig mit Fleisch- oder Kartoffelfüllung, Pferdewurst und zum Nachtisch honiggetränktes Fettgebäck namens Tschak-Tschak.

Zu ruhigeren Zeiten kommen die Jubelschreie von Hochzeitsgesellschaften

Passend, dass ausgerechnet ein Kochgerät Namensgeber der Stadt sein soll (zumindest einer Theorie zufolge): "Kasan" heißt auch ein gusseiserner Kessel, in dem Schmortöpfe zubereitet werden - und ein Bauwerk am Ufer der Kasanka, zu dessen Füßen während der WM das Fanfest stattfindet. Zu ruhigeren Zeiten kommen die Jubelschreie dort von Hochzeitsgesellschaften, denn in dem topfförmigen Gebäude befindet sich das Kasaner Standesamt.

Am gegenüberliegenden Flussufer liegt der Kasaner Kreml, der seit 2000 zum Weltkulturerbe gehört. In der Zitadelle stehen sowohl eine Moschee als auch eine christlich-orthodoxe Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft - für die Einwohner Kasans ein Beweis, dass Christen und Muslime in der Stadt seit Jahrhunderten friedlich zusammenleben. Die allerdings erst 2005 fertiggestellte Kol-Scharif-Moschee ist auch während der Gebetszeiten offen für Besucher. Frauen müssen dort ebenso ein Kopftuch tragen wie in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, in die der Imam Besucher höchstpersönlich zur Besichtigung weiterschickt.

Als typisch tatarische Tugend gilt neben der Toleranz auch die Anpassungsfähigkeit. Die zeigt sich auch im Marketing der Tourismusbehörde: Unter dem Stichwort "Halal-Tourismus" wirbt Kasan um Besucher aus muslimischen Ländern. Deutsch- und englischsprachige Webseiten voller Detailinformationen sollen wohl die russischsprachige Diaspora in Europa anlocken. Zumindest verweisen sie fleißig auf Online-Reiseagenturen mit der Endung .ru. Bei aller Offenheit ist die Reise nach Kasan allerdings nicht so einfach: Juristisch gelten in Tatarstan die gleichen Gesetze wie in Moskau - und die schreiben zur Einreise entweder eine Fan-ID oder ein gültiges Touristenvisum vor. Wer Russland als Besucher erkunden will, der muss es wirklich wollen.

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