Reifendebatte in der Formel 1:Zu viele Fetzen, zu wenig Sicherheit

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Sie halten nicht, sie zerreißen, sie taugen nichts: Die Formel 1 diskutiert angeregt über die Reifen.  (Foto: REUTERS)

Die Formel 1 ist nach dem Rennen in Silverstone ratlos. Der Grund für die zahlreichen Reifenschäden ist unklar. Mit welchem Material weitergefahren wird, bleibt umstritten. Die Piloten erwägen sogar einen Boykott des Rennens auf dem Nürburgring.

Von Elmar Brümmer und René Hofmann

Schuldzuweisungen, Boykottdrohungen, Ratlosigkeit: Die Formel 1 befindet sich vor dem Großen Preis von Deutschland in einer schweren Krise. Ob an diesem Sonntag wie geplant auf dem Nürburgring gefahren wird und falls ja, mit welchen Reifen - diese elementaren Fragen sind nach dem Großbritannien-Grand-Prix in Silverstone offen.

Der Sieg von Nico Rosberg im Mercedes wurde überschattet von einer ganzen Reihe an Reifenschäden, deren Ursache noch nicht geklärt ist. Am Mercedes von Lewis Hamilton, am Ferrari von Felipe Massa, am Toro Rosso von Jean-Eric Vergne und am McLaren von Sergio Perez platze - jeweils bei hoher Geschwindigkeit - ein Reifen. Rennleiter Charlie Whiting gab zu: "Mir ging mehrfach durch den Kopf, die rote Flagge zu zeigen." Die rote Flagge zeigen, das bedeutet: Rennabbruch.

Wegen Reifenproblemen hat es das noch nicht oft gegeben. Zuletzt sorgten die Pneus vor acht Jahren für ähnlich viel Gesprächsstoff. Damals waren die Produkte der Firma Michelin den Kräften nicht gewachsen, die auf der Strecke in Indianapolis herrschten. Die Teams, die mit der französischen Firma zusammenarbeiteten, traten nicht an.

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Lewis Hamilton liefert eine grandiose Aufholjagd und klagt bitterlich. Nico Rosberg wird aus Tausenden Kehlen ein "Happy Birthday" gesungen. Und Sebastian Vettel bleibt erstaunlich gelassen. Die Höhepunkte des Formel-1-Wochenendes.

Von Elmar Brümmer, Silverstone

Dieses Mal ist das Dilemma noch größer: Seit der Saison 2011 beziehen alle Rennställe ihre Reifen von Pirelli. Die Firma rätselt über die Ursache für die Schäden. "Wir haben etwas gesehen, was wir nicht verstehen", sagt Motorsportdirektor Paul Hembery. Er und seine Mitarbeiter sollen nun alle Freiheiten bekommen, um das Problem abzustellen. "Sie können machen, was sie wollen", kündigte Bernie Ecclestone am Montag an, nachdem der Formel-1-Vermarkter mit Jean Todt, dem Präsident des Automobilweltverbandes FIA, beraten hatte.

An zweimal drei Testtagen soll Pirelli neue Produkte ausprobieren dürfen, auch mit aktuellen Formel-1-Autos. Um derlei Testfahrten hatte es zuletzt erbitterten Streit gegeben. Dass sich nun kein Team mehr widersetzt, zeigt, wie ernst die Lage ist.

Das Rennen auf dem Nürburgring ist mit derlei Maßnahmen aber nicht zu retten. Welche Reifen in der Eifel benutzt werden, soll auf einer Sitzung am Mittwoch entschieden werden. Pirelli hat Konstruktionen auf Lager, bei denen die Seitenwände mit Kohlefaser verstärkt sind. Diese einzuführen, war allerdings von Force India, Lotus und Ferrari abgelehnt worden. Die drei Teams fürchteten, sich einen Nachteil einzuhandeln. "Das Ergebnis dieser Kurzsichtigkeit ist nun, dass wir uns Sorgen um die Sicherheit der Fahrer machen müssen", kritisiert Red-Bull-Chefingenieur Adrian Newey. Teamchef Christian Horner schlägt vor, zu den Reifen des Vorjahres zurückzukehren: "Die hatten die Schwäche nicht."

Für Reifenänderungen innerhalb einer laufenden Saison ist die Zustimmung aller elf Teams nötig. Eine Ausnahme wäre aber möglich: Wenn die FIA entscheidet, dass Änderungen aus Sicherheitsgründen nötig sind. Für viele Beobachter ist dieser Punkt erreicht. "Es hätte schwere Unfälle im Rennen geben können", sagt Bernie Ecclestone, 82. Für den Schotten David Coulthard, der selbst mehr als 200 Grand-Prix-Rennen bestritt, sind die aktuellen Reifen "potenzielle Piloten-Killer".

Wie gefährlich die Situation ist, zeigte sich in Silverstone, als nach dem Reifenplatzer am Auto von Sergio Perez Gummi- und Metallstreifen nur Haaresbreite am Helm von Fernando Alonso vorbeiflogen. Bei Tempo 288! "Ich hatte Angst. Und ich hatte Glück", gab der Spanier zu, nachdem er als Dritter heil ins Ziel gekommen war. Der zweitplatzierte Red-Bull-Routinier Mark Webber, 36, sprach von "russischem Roulette". "Natürlich war das riskant", sagte Nico Rosberg und forderte: "Die müssen das analysieren, denn so etwas ist nicht gut für die Formel 1."

Sein Mercedes-Kollege Lewis Hamilton geißelte die Funktionäre: "Um ehrlich zu sein - es ist Zeitverschwendung, mit ihnen zu reden. Sie haben gesehen, was passiert ist. Wenn sie jetzt nicht handeln, sagt das alles." McLaren-Mann Sergio Perez fordert: "Wir riskieren unser Leben. Und wenn das wieder passiert, wollen wir nicht, dass jemand stirbt."

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Ferrari-Fahrer Felipe Massa meint: "Es geht nicht, dass wir mit dem Wissen fahren, dass wir nicht sicher sind." Der Brasilianer bringt sogar einen Boykott ins Spiel: "Ich will nicht sagen, dass wir es tun werden, aber es wäre ein Weg, etwas für unsere Sicherheit zu tun." Die Fahrergewerkschaft GPDA wird am Nürburgring auf jeden Fall tagen.

Einen weiteren Auftritt wie in Silverstone kann sich die Serie nicht leisten. Das Echo auf das Rennen war verheerend. "Außer Kontrolle!", titelte die britische Daily Mail. Dem Corriere della Sera kamen die 52 Runden "wie ein verrücktes Videospiel" vor. "Das Rennen der Angst" hatte der Corriere dello Sport gesehen, die spanische Zeitung El Periódico dichtete: "Das große Pfuschwerk". Le Figaro fiel ein: "Formel 1 in Fetzen."

Angesichts der Dramatik mehren sich die Solidaritätsappelle. "Wir sollten nicht mit Fingern auf Pirelli zeigen", sagt Mercedes-Motorsportdirektor Toto Wolff, "vielleicht müssen wir uns alle fremdschämen. Nach dem ganzen Stunk wäre es angebracht, wenn wir zusammenhalten. Denn das, was passiert ist, hat der ganzen Formel 1 geschadet. Jetzt geht es nicht um den Vorteil, sondern um die Sicherheit."

© SZ vom 02.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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