Reform im Olympia-Boxen:Wie eine Rangelei auf dem Schulhof

Beim olympischen Boxturnier in London gilt zum letzten Mal eine umstrittene Regel zur Punktevergabe, die einst wegen eines skandalösen Urteils eingeführt wurde. In vier Jahren werden zudem Profis antreten dürfen - auch der Kopfschutz ist dann Geschichte.

Jürgen Schmieder, London

Roy Jones junior weiß nicht, wo sich die Silbermedaille befindet, die er bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul gewonnen hat. Er hat sie irgendwo hingelegt, in den Keller vielleicht, womöglich auch auf den Dachboden. Der gleichgültige Umgang mit dieser Medaille ist keineswegs der verletzte Stolz eines Boxers, der später Weltmeister in drei Gewichtsklassen wurde und lange Zeit als über die Klassen hinweg bester Boxer der Welt galt.

DeGale of Britain fights Correa of Cuba during their men's middleweight (75kg) final boxing match at the Beijing 2008 Olympic Games

Kampf bei Olympia 2008: Blaues und rotes Paddel

(Foto: REUTERS)

Die Niederlage in diesem Duell gegen den Südkoreaner Park Si-Hun kränkt Roy Jones junior nicht - ihn verfolgt vielmehr immer noch, wie sie zustande gekommen ist und welche schlimme Auswirkungen sie auf das Amateurboxen hatte. Die Folgen dieses Kampfes und dieses Urteils sind bei den am Samstag beginnenden Box-Wettbewerben zum letzten Mal zu sehen.

"Es war ein tragischer Tag", sagte Jones kürzlich, "weniger für mich als für den gesamten Sport." Dieser Tag war der 2. Oktober 1988, der 19 Jahre alte Amerikaner boxte im Halbmittelgewicht-Finale gegen Park. Würde man behaupten, dass Jones den Kampf dominiert hat, wäre das so, als würde man sagen, dass Muhammad Ali ein ganz passabler Boxer war.

Jones schaffte 86 Treffer, er musste nur 32 hinnehmen, er schlug schöne Kombinationen und wuchtige Haken, in der zweiten von drei Runden wurde Park angezählt - doch drei der fünf Punktrichter stimmten für den Koreaner. Einer davon, Hiouad Larbi, sollte später sagen: "Der Amerikaner hat locker gewonnen. Ich habe für den Koreaner gestimmt, damit es 4:1 ausgeht und die Gastgebernation nicht blamiert wird."

Nach dem Urteil handelten Weltverband und IOC so, wie Sportfunktionäre gerne agieren: Sie implementierten so schnell wie möglich neue Regeln, damit niemand mehr über korrupte Punktrichter sprach. Sie kreierten einen Namen, der den Anschein erweckte, dass der menschliche Faktor weitgehend aus der Wertung genommen würde.

Sie ersannen für die Spiele 1992 in Barcelona das sogenannte "Computerized Scoring". Es funktioniert so: Am Ring sitzen fünf Kampfrichter, sie haben vor sich jeweils ein blaues und ein rotes Paddel. Drücken drei von ihnen innerhalb einer Sekunde den blauen Knopf, bekommt der Boxer in blauer Kleidung einen Punkt. Am Ende gewinnt der Athlet, der mehr Punkte gesammelt hat.

Das System klingt einfach, es ist einfach - vor allem aber ist es einfach nur dumm. Es hat das Amateurboxen kaputt gemacht. Olympia war einmal die Plattform für künftige Weltmeister: Muhammad Ali siegte 1960 im Halbschwergewicht, Henry Maske wurde 1988 in Seoul Olympiasieger im Mittelgewicht, Lennox Lewis gewann dort im Superschwergewicht. "Hätte es damals dieses System gegeben, hätte ich nie an Olympia teilgenommen", sagt Lennox Lewis.

Im bestehenden System ist ein leichter Jab genauso viel wert ist wie eine kräftiger Haken, ein wirkungsloser Treffer zählt ebenso viel wie eine schöne Kombination, weil die Richter oft gar nicht so schnell drücken können wie ein Kämpfer schlägt. Es gewinnt nicht der aktivere, variablere oder einfach bessere Kämpfer, sondern der, der punktet und kaum Treffer zulässt. Das ist, als würde die Fifa beschließen, dass im Fußball künftig die Mannschaft mit der besseren Ballbesitzquote gewinnt - auf so eine Idee kommt nicht einmal die Fifa.

Dazu wurde die Arbeit der Punktrichter erschwert: Beim alten System hatten die Richter am Ende einer Runde entschieden, welcher Boxer den Durchgang gewonnen hat. Das lässt sich aus jeder Perspektive erkennen und lässt auch Zeit für die Interpretation eines Durchgangs. Wie aber sollen die Kampfrichter über einen Schlag urteilen, den sie aufgrund der Perspektive gar nicht sehen können - noch dazu, wo beim Boxen nicht jeder Treffer klar zu identifizieren ist?

Profis in Rio 2016

Das Computer-System hat natürlich den für Funktionäre nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass es nun zwar immer noch wundersame Ergebnisse gibt, dass sich jedoch nicht mehr feststellen lässt, welche Punktrichter da (womöglich absichtlich) falsch gedrückt haben.

Computerized Scoring hat dazu geführt, dass Amateurboxer ihre Taktik veränderten, sie wollen den Gegner nicht mehr besiegen, sondern ähnlich wie beim Fechten brav Punkte sammeln. Besonders wirksam erscheint die Strategie, zu Beginn eines Kampfes einige Treffer zu setzen, danach wegzulaufen und durch Konter den Vorsprung über die Zeit zu retten.

Manche Duelle wirken deshalb nicht wie Boxkämpfe, sondern wie Rangeleien auf dem Schulhof. Das System sollte transparent sein, es sollte technisch versierte Boxer bevorzugen, doch es erwies sich als untauglich.

Bei den Olympischen Spielen in London wird zum letzten Mal mit den Paddeln gepunktet, von den deutschen Boxern rechnet sich Superschwergewichtler Erik Pfeifer Chancen auf eine Medaille aus. "Ich fühle mich gut", sagt er, "im Boxen ist es so, dass du der König bist, wenn du gewinnst - und nichts bist, wenn du verlierst." Erik Pfeifer weiß freilich, dass er vor allem abhängig davon ist, dass die Punktrichter zum richtigen Zeitpunkt auf die Paddel drücken.

Bei den nächsten Spielen, 2016 in Rio de Janeiro, wird es Veränderungen geben: Der Kopfschutz wird abgeschafft, es dürfen Profis teilnehmen, die Punktrichter werten wieder am Ende der einzelnen Runden, wer sie denn gewonnen hat. Sie beurteilen nicht nur die Anzahl der Schläge, sondern auch die Wucht sowie Stil und Kampfgeist der Boxer. Nur eines bleibt: der menschliche Makel. Auch in Rio werden da fünf Menschen um den Ring herum verteilt sitzen und subjektiv darüber abstimmen, welcher Boxer eine Runde und am Ende den Kampf gewonnen hat.

Welch gruselige Ergebnisse dabei möglich sind, das kann man immer wieder beim Profiboxen sehen.

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