Rechtsprechung im Sport:Richter ohne Robe

Rechtsprechung im Sport: Szene auf einem Münchner Fußballplatz: Zieht der Schiedsrichter die rote Karte, entscheidet ein Sportrichter über das Strafmaß.

Szene auf einem Münchner Fußballplatz: Zieht der Schiedsrichter die rote Karte, entscheidet ein Sportrichter über das Strafmaß.

(Foto: Johannes Simon)

Von der Prügelei in der Kreisliga bis zur roten Karte für Mats Hummels: Sportrichter arbeiten anders als ausgebildete Juristen - und doch fällen sie Urteile, die weitreichende Konsequenzen haben. Wie steht es um ihre Unabhängigkeit? Besuch bei einem Gesetzeshüter des Sports.

Von Carsten Eberts und Lisa Sonnabend

In der 35. Spielminute wird es turbulent. Markus Maier bringt Lukas Zeil zu Fall (Namen von der Redaktion geändert). Zeil landet auf dem Rasen. Der Gefoulte rappelt sich hoch, geht auf seinen Gegenspieler los. Daraufhin würgt der 27-jährige Maier seinen Gegenspieler, der stößt ihn mit beiden Händen um. Der Schiedsrichter greift in die Tasche: zweimal Rot.

Ein B-Klasse-Spiel im Münchner Norden, im Herbst, keine sonderlich ungewöhnliche Szene, sagt Gerd Hankel, 65 - und der kann das beurteilen. Zwischenfälle wie diese landen auf seinem Schreibtisch: Hankel ist Sportrichter beim Kreissportgericht München I des Bayerischen Fußball-Verbands (BFV).

Etwa 1100 Urteile sprechen die Gesetzeshüter des BFV jedes Jahr, durchschnittlich 30 neue Fälle gehen bei Hankel und seinen beiden Beisitzern pro Woche ein. Kleinere Fälle wie Schiedsrichter, die nicht zum Spiel erscheinen, oder Fußballer, die ihren Spielerpass vergessen haben. Aber auch Tätlichkeiten, grobe Fouls, Schiedsrichterbeleidigungen. Manchmal Prügeleien. Hankels Zuständigkeitsgebiet: Kreisliga, Kreisklasse, A-, B- und C-Klasse und Hallenspiele.

Früher war Hankel Schiedsrichter, doch als 2008 das Knie nicht mehr mitmachte, wurde er gefragt, ob er nicht als Sportrichter weiter machen möchte. "Fußball ist ein Spiegelbild der Gesellschaft", sagt er, "und ich freue mich, dass meine Erfahrung noch gefragt ist." Hankel las sich in die Rechts- und Verfahrensordnung des BFV ein, bald behandelte er seinen ersten Fall. Der BFV-Funktionär ist ein freundlicher Mann, das Haar weiß, durch die runde Brille blicken wachsame Augen. Zwei Stunden täglich ist Hankel mit seinen Urteilen beschäftigt. Zwar ist im Sportrecht auch von Beschuldigten die Rede, jeder Fall trägt ein Aktenzeichen, doch es ist nicht mit dem Staatsrecht gleichzusetzen. Die Sporturteile werden nicht in einem Gerichtsaal von Richtern in Robe gefällt, sondern am Computer von Ehrenamtlichen wie Hankel.

Darin liegt das Dilemma, in dem die Sportgerichtsbarkeit steckt. Ist es hinnehmbar, dass der Sport seine Angelegenheiten selbst regelt? Die Verbände handeln autark, bestimmen ihre Richter selbst, anders ist es kaum zu regeln. Aber sie machen sich auch angreifbar. Sind die Richter wirklich unabhängig in ihren Entscheidungen?

"Ich halte die Sportgerichtsbarkeit für legitim", sagt Gerhard Wagner, Professor an der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin. Da es keine einheitliche Rechtsprechung auf der Welt gibt und ein Gericht in Nigeria möglicherweise anders urteilen würde als das Landgericht München, führe kaum ein Weg an einer Sportgerichtsbarkeit vorbei. Eine Alternative sieht Wagner nicht. Doch er sagt auch: "Es ist nicht optimal gelöst." Vor allem den Internationalen Sportsgerichtshof (Cas) hält der Jurist für zu eng mit den Sportverbänden verknüpft. Auf nationaler Ebene funktioniere die Sportgerichtsbarkeit dagegen weitgehend. So sieht das auch der Münchner Sportrichter Hankel. "Die Sportgerichte des BFV sind unabhängige Rechtsprechungsorgane, mir hat noch nie jemand reingeredet."

"Die Brutalität hat zugenommen"

Fast täglich steht die Arbeit der Sportgerichte im Fokus. Wenn Freiburgs Torwarttrainer wegen Schiedsrichterbeleidigung 500 Euro Geldstrafe zahlen muss. Wenn BVB-Verteidiger Mats Hummels nach der roten Karte gegen Gladbach vom DFB-Sportgericht für ein Bundesligaspiel gesperrt wird. Oder wenn der TSV 1860 München zu einer Zahlung von 18.000 Euro aufgefordert wird, weil die Anhänger mit Pyrotechnik gezündelt und drei leere Bierbecher auf das Spielfeld geworfen haben.

Sportrichter Gerd Hankel Bayerischer Fußballverband BFV

Sportrichter Gerd Hankel beim Fällen seiner Urteile

(Foto: Lisa Sonnabend)

Kompliziert wird es, wenn Sportler die Hoheit der Verbände in Frage stellen. Etwa der Eishockeyspieler Florian Busch, der mit einer verweigerten Dopingprobe einen fast zweijährigen Rechtsstreit ausgelöst hat. Oder Claudia Pechstein, die mit dem Einspruch gegen ihre Dopingsperre vor dem Cas scheiterte und vor ein Schweizer Bundesgericht zog.

Sportrichter Hankel hat zwar keine derart spektakulären Fälle, aber einige, bei denen er auch auf Kreisebene ins Nachdenken gerät. Immer dann, wenn es auf dem Fußballplatz zu einem Gewaltexzess kommt. "Die Brutalität hat zugenommen", sagt Hankel. In solchen Fällen ermittelt in der Regel auch die Polizei und es kommt parallel zu einem strafrechtlichen Verfahren. "Die Ermittler holen sich dann oft die Unterlagen von uns Sportrichtern", erklärt Hankel.

Etwa zehn Minuten benötigt Hankel, um den Würgegriff auf dem Platz im Münchner Norden zu bearbeiten. Er unterstreicht mit einem Buntstift die einschlägigen Zeilen aus dem Bericht des Schiedsrichters, der ihm als alleinige Grundlage für das Urteil liegt, sofern die Vereine nicht auch eine Stellungnahme abgegeben haben. Dann schlägt der 65-Jährige in der Rechts- und Verfahrensordnung des BFV nach. Zur Anwendung kommt Paragraph 67, der den Titel "Tätlichkeit" trägt. Bis zu zwei Jahre Sperre gibt es dafür. Doch Hankel sieht den Vorfall zwischen Markus Maier und Lukas Zeil nicht ganz so dramatisch. "Ich bin sicher, dass Maier nicht richtig gewürgt hat, eher nur angedeutet", sagt der Sportrichter. "Sonst hätte Zeil ihn nicht mehr umstoßen können." Hobbyfußballer Zeil kommt mit drei Spielen Sperre davon, Maier muss acht Wochen pausieren, sein Verein muss 125 Euro Geldstrafe zahlen.

Hankel überträgt die Daten in ein Online-Programm, mit einem Mausklick sind die beiden Urteile rausgeschickt. Dann nimmt sich der Sportrichter den nächsten Fall vor, diesmal: Schiedsrichterbeleidigung.

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