Real-Torhüter Iker Casillas:Die Nacht glühender Hände

Wegen der Abwehrschwäche Real Madrids kommt es besonders auf die Reflexe von Torwart Iker Casillas an.

Javier Cáceres

An den geschichtsträchtigen Ausflug nach München aus dem August 1980 hat Agustín Rodríguez Santiago, 48, plastische Erinnerungen, er war damals als Torwart bei Real Madrid noch recht neu. ,,Das Stadion war ziemlich leer'', erzählt er, obschon die Chroniken aus jener Zeit von immerhin 30000 Zuschauern sprechen, die Real im Münchner Olympiastadion gegen die Bayern sehen wollten.

Iker Casillas

Iker Casillas.

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Es war bloß ein Vorbereitungsspiel, ins Gedächtnis der Anhänger Madrids hat es sich dennoch eingebrannt. 9:1 lautete das Resultat, und wenn Agustín heute davon einigermaßen entspannt erzählen kann, dann deshalb, weil er die erste Halbzeit auf der Reservebank verbrachte. Sein damaliger Torwartkollege, der spätere Real-Trainer und als Katze von Odessa verehrte Mariano García Remón, machte erst Platz, als er sieben Tore kassiert hatte. ,,Ich habe nur noch zwei Elfmeter bekommen'', sagt Agustín und lacht.

Am heutigen Mittwoch wird nichts auch nur annähernd vergleichbar sein - allein schon, weil es bei der Neuauflage des Spiels um den Einzug in das Viertelfinale der Champions League geht. Noch nie hat ein Real-Ensemble die neue Münchner Arena betreten, und die argwöhnische Vermutung vor der Premiere ist, dass das Stadion Schwindelgefühle auslöst - zumindest das hat der heutige Torhüter, Iker Casillas, der Zeitung El País suggeriert. ,,Das Publikum hat sich schon im Olympiastadion auf dich geworfen, obwohl es 15 Meter weit weg war'', hat Casillas gesagt, ,,ohne Laufbahn dürfte es noch drückender werden. Heißer.''

Dass er sich auf eine Nacht glühender Hände einstellt, heißt nicht, dass ihm die Szenerie Angst bereitet. Dafür empfindet Spaniens Nationaltorhüter die Bühne Champions League als viel zu idyllisch und vertraut. Casillas lernte sie erstmals kennen, als er noch nicht aus der Pubertät entlassen war: mit 16 Jahren, im November 1997. Jupp Heynckes war damals Trainer bei Real, und weil ihm die Torleute ausgegangen waren, ließ er in der Schule anrufen, die Casillas damals besuchte. Der Direktor riss die Klassentür auf und gab Casillas den Marschbefehl, er solle zum Flughafen und die Schul- gegen die Ersatzbank eintauschen: ,,Real Madrid hat angerufen, du musst nach Norwegen.'' Am folgenden Abend saß er, in Decken gehüllt, unter den Reservisten im Rosenborg-Stadion in Trondheim.

Nach zahlreichen Erfolgen in den Nachwuchsmannschaften Spaniens, die im um Selección-Erfolge verlegenen Königreich große Beachtung fanden, und dem Debüt (1999) in der Primera División folgte im Mai 2002 sein emotionsgeladenster Auftritt, das Europapokalfinale gegen Leverkusen in Glasgow. Monate zuvor war er als Nummer eins abgelöst worden, von César Jiménez, und als dieser sich in der zweiten Halbzeit verletzte, sprang Casillas ein - und hielt den Sieg gegen anrennende Leverkusen fest. Es war das einzige Mal, das man in seinen Augen Tränen sah, denn er empfand seinen zweiten Champions-League-Triumph auch als einen Sieg über eine Ungerechtigkeit.

Angeblich war Casillas auf Betreiben von Fernando Hierro abgelöst worden. Der damals allmächtige Kapitän war wegen der ständigen Kommentare des Torwarts genervt. Casillas, 26, ist nach 77 Champions-League-, über 60-Länderspiel- und fast 300 Ligaeinsätzen zu einem Keeper geworden, der lautstark und hemmungslos dirigiert - und wie jüngst beim Gastspiel bei Atlético Madrid (1:1) bei seinen Vorderleuten ständig ,,cojones'' einfordert - Eier. ,,Das Beste an Casillas ist, dass er sich als unbestrittene Nummer eins fühlt, Selbstsicherheit ist auf diesem Posten alles'', sagt Agustín.

Das Vertrauen anderer hat Casillas erst mühsam erkämpfen müssen. Zwar ist er seit Jahren ein Medienstar - auch weil er, ein gebürtiger Madrilene aus dem Vorort Móstoles, ohne erkennbare Allüren geblieben ist. ,,Ich bin kein Galáctico. Ich bin aus Móstoles'', wurde gar zu einem Werbespruch. Sein Trainer Fabio Capello aber hat ihn bis an den Rand der Verachtung geringgeschätzt. Zu Beginn der Saison verwechselte er ihn mit dem zurückgetretenen Illgner - ein freudscher Fauxpas. Der Italiener schätzt große Torhüter, auch deshalb hatte er 1995, bei seiner ersten Etappe als Trainer von Real, Illgner geholt, der neben Casillas (1,85 m) größer wirkt als der Kölner Dom.

Es kostet Casillas tatsächlich Überwindung, die Torlinie zu verlassen, er gerät dann in Schwierigkeiten. Doch bietet ihm die unsichere Abwehr Real Madrids ausreichend Gelegenheiten, sich anderweitig auszuzeichnen, durch Reflexe und vor allem seine glänzende Leistung in Eins-gegen-eins-Situationen. Sie erinnert an die besten aus der argentinischen Schule, an jene Torhüter, die im Angesicht von Stürmern lange und furchtlos stehen bleiben wie Toreros vor Stieren. ,,Für mich ist es unbegreiflich, wie schlecht Real Madrid verteidigt, wie wenig sie an der Vermeidung von Flankenbällen arbeiten'', sagt Agustín und zürnt, dass Casillas verraten und verkauft dastehe: ,,Casillas ist der Torwart mit den drittmeisten Paraden der ganzen spanischen Liga!''

Da die Abwehr in der Münchner Arena nicht plötzlich deutlich besser werden dürfte, sieht Casillas den Schlüssel fürs Bayern-Spiel darin, frei von Komplexen aufzutreten. ,,Wir dürfen nicht versuchen, das Spiel zu regulieren, wir müssen selbst darauf aus sein zu gewinnen.'' Andernfalls, so glaubt er, gehe man unter. Aber neun Tore der Bayern sind wohl doch eher aus anderer Zeit. Reals Nummer zwei heißt übrigens Diego López. Nur so für alle Fälle.

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