Rassismus-Debatte:Vorbild Schweden

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Wie man Rassismus begegnet: Jimmy Durmaz (vor dem Rest des Teams), schwedischer Nationalspieler mit türkischen Wurzeln, gibt eine Erklärung ab, nachdem er in Sozialen Netzwerken verunglimpft worden war. (Foto: Joel Marklund/dpa)

Schuld am deutschen WM-Aus? Özil und Gündoğan. Viele im Land machen es sich einfach. Die Nationalmannschaft müsste dringend die Initiative ergreifen.

Von Claudio Catuogno

Dass Soziale Netzwerke und Kommentarspalten auch die Verlängerung des Stammtisches ins Digitale sind, ist nicht neu. Aber so, wie derzeit im Netz über die Gründe für das Vorrundenaus der deutschen Auswahl diskutiert wird, fehlt ein Wesensmerkmal der Stammtische: dass andere Argumente zumindest gehört werden. Eher sind diese Foren Meinungsmüllkippen, auf die immer neuer toxischer Unrat abgepostet und abgetwittert wird. Und selbst, wenn da auch viele scharfsinnige Leute mitsurfen, die den Müll als das entlarven, was er ist, nämlich Müll - sie haben keine Chance. Es kommt sekündlich so viel Unrat dazu, dass man mit Argumenten längst nicht mehr dagegen ankommt.

Gar nicht mal sehr verkürzt, geht die Analyse des Vorrundenscheiterns auf diesen Plattformen oft so: Die zwei Türken sind schuld; mit Türken gewinnst du halt nichts in einer deutschen Nationalmannschaft; ohne Mesut Özil und Ilkay Gündogan wären wir jetzt noch auf Titelkurs. Schön, wenn man es sich so einfach machen kann, und es tut trotzdem nicht weh.

Man fragt sich, was noch alles hineingerührt wird in die Analyse des deutschen WM-Scheiterns

Um es vorweg zu sagen: Nein, es ist kein Rassismus, die liebedienerischen Fotos der beiden Nationalspieler mit dem türkischen Rechtsstaatabschaffer Recep Tayyip Erdoğan zu verurteilen. Und genauso wenig ist es Rassismus, Spieler mit Migrationshintergrund für schwache Spiele zu kritisieren. Und ja, es gibt da bestimmt einen Zusammenhang: zwischen Fotoaffäre und Stimmung, zwischen Stimmung und Vorrundenaus. Das alles wird man wohl noch sagen dürfen? Unbedingt!

Aber was wird daraus im Netz? Özil, der Türke. Ist kein Deutscher. Soll verschwinden. Von dieser rassistischen Verkürzung handelt dieser Text. Warum machen es sich so viele Leute derart undifferenziert leicht mit ihrer Analyse?

Man landet, wenn man sich diese Frage stellt, nicht nur wieder bei den üblichen AfD-Führern, die "AfD wirkt" twittern, wenn Özil gegen Schweden auf der Bank sitzt, oder "Ohne #Özil hätten wir gewonnen", kurz nachdem nicht ein, sondern elf deutsche Spieler an Südkorea gescheitert sind. Man landet aber auch beim sogenannten Comedian Oliver Pocher, der sich als Edelfan der Nationalelf ausgibt - und dann eine Özil-Parodie veröffentlicht, deren Humorebene sich auf das Ankleben von Glubschaugen beschränkt.

Man landet bei Fußballmedien, die Özil nach dem 0:2 gegen Südkorea mit der Note 6 aburteilen, weil das gerade der Stimmung im Land entspricht, obwohl die Statistiken das nicht hergeben: Özil hatte in der Partie von allen deutschen Spielern die meisten gefährlichen Pässe gespielt und die meisten Torchancen vorbereitet; er hatte sogar überdurchschnittliche Werte bei seinen Defensivzweikämpfen.

Und man landet bei Meinungsmachern wie Claus Strunz, ehemals Chefredakteur der Bild am Sonntag, der im Sat1-Frühstücksfernsehen tatsächlich folgendes gesagt hat: "Vor vier Jahren gab es noch keine Flüchtlingskrise (. . .), vor vier Jahren war noch nicht dieses ungute Gefühl im Alltag (. . .). Und dieses Spiel ist ein Spiegelbild dafür, wie es im Land läuft, es läuft nämlich schlecht, wir machen es schlecht, und dann gewinnt man auch keine Spiele, und man kommt in der Politik auch nicht zu sinnvollen Entscheidungen." Ergo: Jogi raus, Merkel raus, und weil es gerade en vogue ist noch dies: "Mesut Özil hat in dieser Weltmeisterschaft gedacht, die Tore stehen an der Breitseite. Er spielt immer nur quer statt nach vorne. Als wäre ein Dimmer drüber. Wie wenn man das Licht oder die Musik leiser macht."

Die große Gefahr: Was kommt als nächstes? "Türken raus"-Rufe auch in der Kreisklasse?

Der neueste Spiegel-Titel: "Fußball. Politik. Wirtschaft. Es war einmal ein starkes Land". Man fragt sich, was jetzt eigentlich noch alles hineingerührt wird in die Analyse, warum es den deutschen Weltmeistern nicht gelungen ist, eine Überzahl des Gegners bei Kontern zu unterbinden, warum sie den Ball nicht in die Schnittstellen hineingebracht haben, und wenn doch, warum dann keiner dort hingelaufen war, und überhaupt warum der Bundestrainer seine Spieler diesmal nie auf die nötige Betriebstemperatur gebracht hat.

Dass die Affäre Özil/Gündogan eine von vielen Belastungen war, die dieser WM-Mission ihre Leichtigkeit nahmen, ist dabei gar nicht mal strittig. Das sehen sie auch beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) so: Man werde jetzt, wenn alles auf den Tisch kommt, nicht nur erneut über die Erdoğan-Fotos zu reden haben. Sondern auch darüber, warum insbesondere Özil das Thema durch sein Schweigen mit ins Turnier geschleppt hat. Ob und wie sehr das Team darüber sein Zusammengehörigkeitsgefühl verlor. Und nicht zuletzt, welche Motive es für das Schweigen gibt: von der Angst, dass im Fall einer öffentlichen Distanzierung prompt die türkischen Medien über die beiden herfallen, bis hin zu geschäftlichen Beweggründen. Gündogan ist in der Türkei an einem Bauprojekt beteiligt ( SZ vom 19.05.).

Am Anfang, in den Testspielen vor dem Turnier, konnte man die Pfiffe gegen Özil und Gündogan ja sogar noch für Ausdruck eines politischen Bewusstseins halten: Pfiffen da womöglich Leute auch für den Rechtsstaat? Und gegen die Unterdrückung Andersdenkender in der Türkei, die man ja ein Stück weit legitimiert mit einem Trikot für den Autokraten? Ganz bestimmt! Aber auch dieser differenzierte Blick schein längst verstellt zu sein. Gekapert von jenem Teil des Publikums, der schon damals die Nase gerümpft hat, als Mesut Özil von der Mehrheit der Fans noch zum "Nationalspieler des Jahres" gewählt wurde, fünfmal sogar, zuletzt 2016. Gekapert von jenen, die stets schon "Türken raus!" dachten, die es sich jetzt zu posten trauen und die es demnächst wahrscheinlich auch rufen werden. Vielleicht schon, und da wird es jetzt wirklich ernst, beim nächsten Heimspiel des örtlichen Dorfvereins in der Kreisklasse C.

Man weiß nicht, ob der DFB schon begriffen hat, was gerade auf dem Spiel steht. Es mag eine gewaltige Herausforderung sein, jetzt wieder eine titeltaugliche Mannschaft zu formen. Aber dieses sportfachliche Ziel verblasst fast gegen die viel größere Herausforderung. Auf dem Spiel steht alles, was dem Lieblingssport der Deutschen seine gesellschaftliche Bedeutung verleiht: das Miteinander von Kickern mit und ohne Migrationshintergrund auf den Bezirkssportanlagen und Ascheplätzen des Landes.

Wenn nun aber die Herausforderung so gewaltig ist - müsste man dann nicht auch bei den Maßnahmen etwas größer und radikaler denken als bisher?

Mal angenommen, es würden jetzt drei Nationalspieler eine Videobotschaft an die Fans aufnehmen, sagen wir: Manuel Neuer, Mats Hummels und Jonas Hector, jene drei, die noch mit den wenigsten Schrammen aus dem Turnier gekommen sind. Und mal angenommen, sie würden zum Beispiel folgendes sagen:

"Liebe Fans der Nationalmannschaft,

die WM ist für Deutschland vorbei. Wir wissen, ihr seid wahnsinnig enttäuscht. Wir sind mindestens so enttäuscht wie ihr. Wir haben dieses Mal alle zu viele Fehler gemacht. Auf dem Platz, aber auch neben dem Platz. Das wissen wir, und diese Fehler werden wir analysieren und ganz offen ansprechen. Auch das gilt ausdrücklich für uns alle. Eines wollen wir, im Namen des ganzen Teams, aber noch loswerden:

Es wird gerade von vielen Leuten versucht, einen Keil in unsere Mannschaft zu treiben. Es wird der Eindruck erweckt, als müssten bloß mehr "echte Deutsche" das Nationaltrikot tragen, dann kämen die Erfolge zurück. Als wäre es eine Last, dass in unserer Mannschaft Spieler zusammenkommen, deren Eltern aus verschiedenen Ländern und Kulturen stammen, die einen unterschiedlichen Glauben haben und im Privaten unterschiedliche Traditionen leben. Dabei ist das Gegenteil richtig. Genau das macht uns aus! Wir sind 2014 Weltmeister geworden, weil wir aus vielen verschiedenen Talenten mit unterschiedlichen Biografien das Beste herausgeholt haben. Und wir werden auch in Zukunft nur dann wieder gemeinsam mit euch Erfolge feiern können, wenn wir uns nicht auseinander dividieren lassen.

Also, unsere dringende Bitte: Glaubt nicht den Vereinfachern! Glaubt nicht den Rassisten! Wenn ihr weiter mit uns mitfiebern wollt, mit uns mitleiden wollt, mit uns mitjubeln wollt - bitte berücksichtigt, dass diese Mannschaft für Werte steht. Für Toleranz, Offenheit und Miteinander.

Vielen Dank!

Eure deutsche Nationalmannschaft."

Mal angenommen, so etwas würde geschehen. Wäre es nicht ein viel kraftvolleres Signal, dass in dieser Mannschaft noch Leben steckt, als jede Powerpoint-Analyse über Laufwege und Vertikalpässe, die Oliver Bierhoff jetzt gerade anfertigt?

Die Schweden haben rassistische Angriffe gegen ihren türkischstämmigen Spieler Jimmy Durmaz mit einer Aktion dieser Art beantwortet. Durmaz verlas eine Erklärung - dann riefen alle "Fuck racism". Kurz danach haben sie 3:0 gegen Mexiko gewonnen. Bei den Schweden war es aber auch nur ein Foul (jenes vor Toni Kroos' Freistoß im Deutschlandspiel), das die Beleidigungen und Morddrohungen gegen Durmaz provoziert hatte. Irre genug.

Bei den Deutschen liegen die Dinge wieder mal komplizierter. Damit es so ein Signal geben könnte, müssten zwei Dinge zusammenkommen. Erstens müssten auch Özil und Gündogan die Aktion wollen. Gündogan hatte sich schon kurz nach den Fotos zu den Werten des Landes bekannt, dessen Trikot er trägt. Bei Özil, der sich mit öffentlichen Statements immer schon schwer tat, weiß man nicht, was er denkt. Am Freitag setzte er immerhin einen Tweet ab, darin die Botschaften: Wir waren nicht gut genug und #SayNoToRacism. In die Gruppe hinein müsste er noch klarer vermitteln, dass er sich seines Teils der Verantwortung bewusst ist.

Zweitens: Die Verbandsspitze müsste Mut aufbringen. Das ist der schwierigste Teil. DFB-Präsident Reinhard Grindel legt großen Wert darauf, dass politische Äußerungen allein in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, die Spieler und Trainer sollen sich auf den Sport konzentrieren, für alles andere gibt es seine Stellungnahmen.

Aber über den Punkt, an dem präsidiale Leitlinien noch Gehör finden, ist man offenbar hinaus. Um der Meinungsmüllkippe zu Leibe zu rücken, braucht es die größte Baggerschaufel, die sie beim DFB haben. Die größte Baggerschaufel ist die Nationalmannschaft.

Sie müssten ja nicht gleich "Fuck racism" brüllen wie die Schweden. Aber etwas Ähnliches müssten sie jetzt dringend ganz laut hinausrufen ins Land. Sie müssten klar machen, dass sie das Deutschlandtrikot nicht im Namen derjenigen tragen, die es als rassistisches Symbol missbrauchen wollen.

© SZ vom 02.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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