Radsport:Unerwartete Zeichen der Stärke

Eigentlich wollte er sich nur für die Tour de France warmfahren. Doch auch nach der schwersten Etappe der Schweiz-Rundfahrt fährt Jan Ullrich immer noch in Gold - und verblüfft sich selbst.

Von Andreas Burkert

Der Strauß fliegt im hohen Bogen davon, was soll er auch mit dem Gebinde, er bekommt hier ja jeden Tag ein neues gereicht. Jan Ullrich im (knallgelben) Goldtrikot und ausgestattet mit Blumen, dieses Arrangement prägt die 68. Tour de Suisse nun schon seit Samstag, als der deutsche Radprofi überraschend die Auftaktetappe gewann.

Für Donnerstag war eigentlich ein Wechsel an der Spitze des Klassements vorgesehen, zumindest von ihm selbst, doch hinterher steht er doch wieder oben auf dem Holzpodest und grüßt ins Schweizer Publikum, diesmal in Linthal, Kanton Glarus. Ringsum sehen die wunderschönen Schweizer Berge zu, in die sich das Feld erstmals ausdauernd begeben hatte. Doch die mächtigen Prüfungen Susten- und Klausenpass haben ihm nichts anhaben können, und hinterher sagt Jan Ullrich: "Ich bin überrascht."

In der sechsköpfigen Spitzengruppe kam Ullrich in Linthal an, vor ihnen eingetroffen waren nur die standhaften Ausreißer Thorwald Veneberg, Holland, sowie der Solist Niki Aebersold, am sechsten Tag erster Schweizer Sieger. Ullrich sprintete sogar um Platz drei und verlor das Duell mit Aebersolds Landsmann Roger Beuchat nur hauchdünn.

Mit überzeugendem Tagespensum behauptete der Olympiasieger aus Rostock auch nach der Königsetappe die Führung, was ihn angeblich am meisten verblüfft. "Das war heute natürlich Kaiserwetter", sagt Ullrich und blinzelt in die Sonne, "ich war vorher selber gespannt, wie es heute gehen würde, aber ich habe mich sehr gut gefühlt." Diesen Eindruck teilt Georg Totschnig, Bergspezialist aus Österreich in Diensten des Team Gerolsteiner.

Schweizrundfahrt als Ausscheidungsverfahren

Er zählte zur kleinen Gruppe der Besten und liegt nun bei 25 Sekunden Rückstand auf Rang drei hinter dem Schweizer Fabian Jeker (sechs Sekunden zurück, gestern Sechster). "Wie Ullrich drauf ist, hat heute jeder gesehen", sagt Totschnig, "das Tempo ist sehr hoch gewesen, deswegen konnte auch keiner attackieren."

Ganz offensichtlich befindet sich Jan Ullrich bereits in guter Verfassung, dabei sind es noch gut zwei Wochen bis zum Start der Tour de France. Und er hat sich hier bislang nichts anmerken lassen, obwohl das Wetter bis gestern eher nicht seinen Vorstellungen entsprach und er im Finale der Gebirgsetappen nicht sonderlich viel Unterstützung von den Kameraden erwarten kann.

Denn die neuntägige Schweizrundfahrt hat sich ja längst zu einem Ausscheidungsfahren für die beiden deutschen Mannschaften entwickelt. Gerolsteiner führt die zweifelhafte Hitparade an mit bislang vier Fahrern, die schon zu Hause sind. Gestern stieg Sprinter Olaf Pollack entkräftet vom Rad und verweigerte damit die Auffahrt zum Sustenpass (2224 m).

Der Cottbuser hatte bereits auf der fünften Etappe als trauriger Nachzügler abgeschlagen den letzten Platz belegt. Im Krankenbett liegen längst der Schweizer Markus Zberg nach seinem spektakulären Sturz in eine Schlucht (von der er wundersam nur eine Wirbelstauchung davontrug), der Italiener Gianni Faresin (Knie) sowie Robert Förster aus Leipzig, dessen Schulter operiert ist.

Das T-Mobile-Team zog gestern nach mit Steffen Wesemann. Bevor der Flandern-Sieger wegen Fieber ausstieg, mussten bereits Ullrichs schwer gestürzter Edelhelfer Alexander Winokurow (Schultergelenkssprengung) und Tobias Steinhauser (Hüftprellung) abreisen.

Angesichts dieser Personalnot hatte Ullrich vor dem gestrigen Start erklärt, nicht mit aller Macht die Führung verteidigen zu wollen. "Natürlich werde ich das Trikot nicht kampflos hergeben, denn es ist schon schön", sagte er, "aber ich muss auch auf mein Team gucken - sie dürfen sich nicht kaputt fahren, wir brauchen die Kraft für die Tour."

So richtig hat er sich dann aber nicht an diese Idee gehalten, denn vor dem letzten Anstieg schickte er seine Leute nach vorn. Sie sollten Tempo machen, was für Ullrichs Zutrauen in die eigenen Beine sprach. Zur Hälfte des zweiten Anstiegs der Ehrenkategorie, dem Klausenpass (1984 m), hatte Ullrich aber nur noch einen Mann dabei: Giuseppe Guerini.

Der 34-jährige Italiener, letztes Jahr Dritter der Rundfahrt, trat mit hoher Frequenz vor der zunächst 20-köpfigen Spitzengruppe. Die Favoriten fuhren jetzt ihr eigenen Rennen, während vorne Aebersold um den Lohn für letztlich 180 Kilometer Alleinfahrt kämpfte. In dieser Phase wirkte Ullrich von Beginn an tempohart und offensiv, ganz anders noch als zuletzt bei der Deutschlandtour. Energisch blieb er an Guerinis Hinterrad, und manchmal ging er sogar aus dem Sattel. Bei ihm ist das ein Zeichen der Stärke. Er fühlte sich wohl wirklich sehr gut.

Dem Tempo der beiden Mobile-Fahrer konnten zahlreiche Favoriten nicht mitgehen: nicht der Amerikaner Bobby Julich (CSC) und auch nicht die Schweizer Hoffnung Oscar Camenzind, bis Donnerstag Zweiter mit nur zwei Sekunden auf Ullrich. Der frühere Weltmeister verlor mehr als eine Minute, ebenso Patrik Sinkewitz, der junge Sieger der Deutschlandtour aus Fulda - die formidable Zugmaschine Guerini, am Ende Neunter, und Ullrich hatten die Gruppe gesprengt. "Giuseppe ist so schnell gewesen, dass keiner mehr gezuckt hat", sagte Ullrich zufrieden, "eigentlich habe ich mit mehr Attacken gerechnet, aber meine Mannschaft hat einfach einen guten Job gemacht."

Ein Goldtrikot und Blumen für Jan Ullrich, so könnte es auch am Sonntag sein, nach der letzten Etappe in Lugano. Beim dortigen Einzelzeitfahren über 26 Kilometer dürfte der 30-Jährige kaum zu bezwingen sein von den Kontrahenten im Klassement, denen sich mit der heutigen Etappe wohl die letzte Chance auf Zeitgutschriften bietet.

Die Steilfahrt zur Bergankunft Malbun (ab 15.45 Uhr live im DSF) misst 13 Kilometer, auf diesem Weg hat das Peloton 1100 Höhenmeter zu überwinden. "Das ist der schwerste Berg der Tour", sagt Ullrichs Betreuer Rudy Pevenage, "aber ich bin mir sicher, dass Jan jetzt auch gewinnen möchte." Denn Gelb, findet er, stehe Ullrich eigentlich ganz gut.

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