Radsport: Toter Ex-Profi:Ende einer Flucht

Belgiens tragischer Radsport-Held Frank Vandenbroucke, ein Gesicht der Agonie des Radsports, stirbt mit nur 34 Jahren einsam in einem Hotelzimmer im Senegal.

Andreas Burkert

Sie hielten alle inne, als die Nachricht kam, die fürchterlich schmerzte und leider doch niemanden wirklich überraschte. Auch in Putte, einer Kleinstadt in Flandern, schwiegen die Menschen am Dienstagmorgen vor dem Start des Nationale Sluitingsprijs, einem Rennen durch Belgien, dieses Land, in dem Radprofis gottähnliche Helden sind, immer noch. Sie schwiegen in Putte eine Minute lang in Gedenken an Frank Vandenbroucke, der in seiner Heimat weiterhin verehrt wurde, obwohl er trotz seines immensen Talentes kein vortreffliches Vorbild für sie gewesen ist. Sondern eher ein Gesicht für die Agonie des Radsports.

Der Radsport lebt noch, heißt es, und an diesem Mittwoch dürfte bei der Präsentation der Tour 2010 in Paris erneut beschworen werden, dass es ja in den Nachtests auf Doping keine neuen Positivfälle gegeben habe und demnach alles besser wird. Für Vandenbroucke käme eine solche Wende zu spät, er lebt nicht mehr. Tot ist er aufgefunden worden, in seinem Hotelzimmer in Saly, einem Urlaubsresort an der Küste des Senegals. Offenbar ist er in der Nacht zum Montag schwer betrunken gewesen, an seinem Bett fanden sich angeblich Insulin, ein Schlaf- und ein Beruhigungsmittel.

Lungenembolie lautet die vorläufige Diagnose, eine Blutgefäßverstopfung. Niemand aus der großen Trauergemeinde des Radsports wollte das Schicksal eines nur 34-jährigen Leistungssportlers offen mit Doping in Verbindung bringen. Doch der Gedanke lag nahe bei Vandenbroucke, der als Familienschreck einer schrecklichen Familie galt. Als einer, der es eben doch übertrieb und seinem schmächtigen Körper zu viel zumute.

Jean-Jacques Vandenbroucke, sein Vater, ein blasser Mann mit großen Augenringen, drückte sich angemessen rücksichtsvoll aus, als er in seiner ersten Reaktion sagte: "Frank hat nicht so gelebt wie die anderen, und er ist nicht so gestorben wie die anderen." Sein Onkel Jean-Luc Vandenbroucke, früher selbst Profi, sagte: "Frank hatte seine Höhen und Tiefen, sowohl körperlich wie psychisch. Wir waren angesichts seines chaotischen Lebensstils vorbereitet, dass es so enden könnte. Automatisch denkt man an Pantani."

Natürlich denkt man an ihn.

Marco Pantani, der Tour-de-France-Sieger von 1998 aus Italien, starb im Februar 2004 einsam in einem Hotelzimmer in Rimini. Eine Überdosis Kokain. Il Pirata, der Pirat, besaß immenses Talent, bei der Tour 2000 hat er sogar Lance Armstrong auf dem Mont Ventoux geschlagen, nachdem er auch noch den Spanier José-Maria Jimenez abgehängt hatte. Jimenez starb, das nebenbei, im Dezember 2003 in einer psychiatrischen Klinik. Er litt an den Krankheiten Drogensucht und Depression. Wie Pantani.

Der labile Wallone Vandenbroucke war keiner für den Toursieg, Klassiker sind sein Terrain gewesen. 1998 siegte er in Wevelgem, 1999 bei Het Volk und Lüttich - Bastogne. Belgien hatte einen neuen Musseuw, den nächsten Helden. VdB hieß er seitdem. Und "Franky boy".

Damals in Lüttich sei er gedopt gewesen, hat Vandenbroucke im April 2008 eingeräumt, als er seine Autobiografie "Ich bin nicht Gott" herausbrachte. Doch er sei ein verdienter Sieger gewesen: "Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass ich nichts anderes genommen habe als der Zweite, Dritte, Vierte, Fünfte." VdB befand: "Das war ein ehrliches Rennen mit einem ehrlichen Gewinner." Betrug, das hat man nach den Enthüllungen der vergangenen Jahre immer wieder gehört, gibt es im Radsport nicht.

Viele von damals sind inzwischen dennoch entzaubert worden, auch Vandenbroucke stürzte ab: Sein Physiotherapeut Bernard Sainz, in der Szene als "Dr. Mabuse" bekannt, geriet 1999 auf dem Heimweg von einem Besuch bei Vandenbroucke in eine Verkehrskontrolle - die Beamten fanden im Kofferraum ein üppiges Dopingarsenal. Im Februar 2002 führte Belgiens Polizei auch Vandenbroucke in Handschellen aus seiner Wohnung ab, in der Epo, Hormone, Steroide, Amphetamine und Morphin beschlagnahmt wurden. Franky boy sagte aus, die Mittel stammten "aus einer anderen Zeit meines Lebens" und seien auch "nicht für mich bestimmt gewesen, sondern für meinen Hund". Er wurde sechs Monate gesperrt. Vandenbroucke reagierte fatal auf seiner ewigen Flucht in einem System aus Lügen: Er fuhr betrunken Auto, er vergaß mal am Straßenrand seine Frau - auf die er schließlich mit einem Jagdgewehr losging. Als sie mit Trennung drohte, versuchte er sich im Juni 2007 mit Tabletten das Leben zu nehmen. Vandenbroucke konnte wiederbelebt werden. Ihr Frank habe in den letzten Jahren immer öfter Drogen genommen, gab die Gattin später bei der Polizei zu Protokoll. "Dann wurde er aggressiv."

Vandenbroucke begab sich in eine Psychiatrie, bedrohte aber das Personal und trat die Behandlung nicht an. Er wurde darauf zwangseingewiesen. Drei Monate später gab er sein Comeback. "Radfahren wird immer mein Grund zum Leben sein", sagte er und kommentierte seine Probleme: "Ich bin der heutige Pantani."

Seine Flucht ist beendet

Wie der Italiener verwand wohl auch Vandenbroucke nie, dass das Publikum jetzt alles von ihm wusste: seine Krankheiten Depression und Medikamentensucht, den pathologischen Hang zu Extremen. Und dass er nur das Rad besaß. Verzweifelt wirkten seine Engagements bei diversen Mannschaften, die oft vorzeitig endeten. Große Resultate blieben seit Rang zwei in Flandern 2003 aus. Es ließ sich aber nichts anmerken, noch neulich bei der Rad-WM in Mendrisio gab sich der blondierte Belgier so, wie ihn auch Jörg Jaksche in diesem Februar kennengelernt hatte. "Er war zuversichtlich, ein richtig netter Mensch", erinnert sich der frühere Profi an das erste Trainingslager in der Toskana, als sie beim Drittdivisionär Cinelli eingekleidet wurden. Für den geächteten Dopingkronzeugen aus Ansbach und auch für Vandenbroucke sollte das Projekt einen Neubeginn bedeuten. Doch es löste sich bald wieder auf.

Jaksche, 33, arbeitet heute in einer Radzubehör-Firma, er kommt offenbar klar. Vandenbroucke, längst getrennt lebend von der Gattin und beiden Töchtern, fuhr noch bis zum Lohnstopp im August im Cinelli-Dress, danach als Solist bei Kriterien. Auch für 2010 nicht unterzukommen, diese Aussicht habe ihm zugesetzt, heißt es jetzt. Selbst alte Gefährten wie der einstige Klassikerkönig Johan Musseuw, der inzwischen Doping mit Hilfe eines Tierarztes einräumen musste, oder der zwielichtige Manager des Quick-Step-Teams, Patrick Lefévère, vermochten ihm nicht mehr zu helfen.

Nun ist Vandenbrouckes Flucht beendet. Er war chancenlos.

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