Radsport:"Man muss Lance Armstrong isolieren"

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Walter Godefroot, scheidender Manager des T-Mobile-Radrennstalls, über Strategien für die Tour de France und Jan Ullrichs Aussichten.

Interview: Andreas Burkert

Walter Godefroot, 62, ist seit 1991 Manager des Telekom-Radrennstalls (heute T-Mobile), dessen Erfolge die Entwicklung des deutschen Radsports maßgeblich beeinflussen. Der Belgier ist zwischen 1965 und '79 selbst ein herausragender Sprinter gewesen, er gewann die Flandernrundfahrt (1968 und '78), Paris -- Roubaix (1969), insgesamt zehn Tour-Etappen und das Grüne Trikot (1970) sowie Bronze bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio. Zum Jahresende übergibt er den deutschen Rennstall an Olaf Ludwig.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Godefroot, diese Tour ist eine besondere für Sie, denn es ist nach 40 Jahren im Profiradsport Ihre letzte.

Godefroot: Ja, ich habe vor zwei Jahren eine Medaille bekommen für meine 30. Tour-Teilnahme. Meine Aufgabe wird es noch einmal sein, meine Meinung zu sagen, Informationen zu geben, wenn Mario Kummer (Sportlicher Leiter; d. Red.) oder Olaf Ludwig das wünschen. Ich habe ihnen ja bereits viel Verantwortung übertragen und kann inzwischen mit etwas Abstand auf die Sache schauen. Das tut ganz gut.

SZ: Was hat sich verändert seit Ihrer ersten Tour-Teilnahme 1967?

Godefroot: Alles! 1967 habe ich die Tour mit der belgischen Nationalmannschaft bestritten, so etwas gab es damals noch. Und früher waren das Ziel und der Startplatz noch am selben Ort, man musste nicht so viel mit dem Auto fahren. Damals gab es noch nicht diesen großen Stress, aber natürlich hatten wir auch Probleme. Neulich habe ich noch mit der Frau von Eddy Merckx geplaudert, wie sie früher den ganzen Abend versucht hat, ihren Mann im Hotel anzurufen - und einfach keinen Anschluss bekam. Und wenn es mal klappte, war es zwischendrin plötzlich unterbrochen. Das war bei meiner Frau und mir auch oft so. In Orten wie Rouen oder Nantes hatten wir eben die üblichen kleinen Hotels: Hotel de France oder Hotel de la Poste, die hatten alle einen Stern - und wenn man die Tür zumachte, ist der eine Stern auch noch runtergefallen. So war das.

SZ: Heute besitzt jeder Mechaniker zwei Mobiltelefone, und die Teams wohnen bisweilen in Vier-Sterne-Hotels.

Godefroot: Vier Sterne nicht unbedingt, und ich denke, es gibt wenige Topsportler, die oft in solchen Hotels wohnen: in kleinen Zimmern, zu zweit, wo sie ihre Koffer aufs Bett legen müssen, weil der Platz fehlt. Das ist noch immer so. Ansonsten gab es früher eben zwei Mechaniker, zwei Masseure und drei Sportliche Leiter für zehn Fahrer, dazu einen Kleinbus - jetzt sind es 14 Begleiter für neun Fahrer und einen Reisebus. Alles ist größer geworden.

SZ: Sie haben 1965, in Ihrem ersten Profijahr, die belgische Meisterschaft gegen Merckx gewonnen. Siege über ihn waren danach aber eher eine Rarität, nicht?

Godefroot: Eddy sagt mir heute noch: ,Du bist der Einzige, der mich öfters besiegt hat.' Ich habe ja zweimal die Meisterschaft gegen ihn gewonnen, auch bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und bei Paris-Roubaix. In den Klassikern konnte ich schon mit ihm konkurrieren.

SZ: Heute heißt der Tyrann Lance Armstrong. Hat er etwas von Merckx?

Godefroot: Nein, das kann man nicht vergleichen. Es hatten sicher noch andere das Talent von Merckx - etwa ein Bernard Hinault oder ein Jacques Anquetil -, aber keiner hatte so einen Ehrgeiz, immer gewinnen zu wollen. Armstrong ist anders. Nehmen Sie die letzte Dauphiné-Rundfahrt: Da sieht man Armstrong auf den beiden letzten Etappen, wie er das Rennen kontrolliert und dabei trainiert. Am letzten Tag sind dann zwei seiner Kameraden vorne und gewinnen - Merckx hätte versucht, auch diese Etappen zu gewinnen. Merckx hat ein Drittel seiner Rennen, die er gefahren hat, gewonnen. Wenn man Geschenke gibt, kann man selber nicht gewinnen, hat er immer gesagt.

SZ: Leidet Jan Ullrich unter dem Tour-Dominator Armstrong?

Godefroot: Das glaube ich nicht, so wie der ewige Zweite Raymond Poulidour nicht unter Anquetil gelitten hat. Oder Felice Gimondi: Ohne Merckx wäre der in Italien ein zweiter Fausto Coppi gewesen. Ich denke, dass Jan da gut mit leben kann. Er ist eben im Gegensatz zu Merckx kein Kannibale.

SZ: Das ist auch eine Ihrer Kernaussagen gewesen in jenen Interviews kurz vor dem Tour-Ende 2004, die Schlagzeilen gemacht haben und als Kritik an Ullrichs Arbeitseinstellung ausgelegt wurden.

Godefroot: Und ich fand das nur peinlich, wie die deutsche Presse reagiert hat, als wir Zweiter und Vierter der Gesamtwertung waren. Ich habe doch nichts Neues gesagt, sondern nur das, was ich schon immer über Jan und sein Umfeld gesagt habe. Es wurden nur die negativen Sachen herausgezogen.

SZ: Zumindest der Zeitpunkt war unglücklich, Ullrich jedenfalls war sauer.

Godefroot: Jeder war sauer, dabei können sie alle nicht französisch und haben sich nur Geschichten von anderen erzählen lassen. Ich wurde doch beauftragt von einer Firma, eine Mannschaft zu leiten, und wenn ich mich dort nur objektiv und sachlich äußere, ist das wohl mein Recht. Das war nichts Gelogenes, sondern eine sachlich-kritische Beurteilung von Jan. Ich habe ihm auch eine offizielle Übersetzung zukommen lassen, und dann hat er gesagt: "Okay, ich habe kein Problem damit."

SZ: Sie hatten ohnehin nie Scheu, Jan Ullrich zu kritisieren.

Godefroot: Aber ich war als Rennfahrer doch eher ein Jan Ullrich! Mich musste man im Winter auch in Ruhe lassen, nur gab es damals keine andere Lösung: Um genug Geld zu verdienen, musste man 150 Rennen im Jahr fahren. Jan ist eben ein Mensch ohne grenzenlosen Ehrgeiz, und damit kann ich leben. Und das darf man doch wohl noch erzählen, dass er keine Kannibale ist wie Merckx oder Armstrong -- um Gottes Willen, das ist doch eigentlich auch eine gute Seite!

SZ: Können Sie sich noch an die erste Begegnung mit Ullrich erinnern?

Godefroot: Er ist 1993 in Oslo Weltmeister bei den Amateuren geworden, und ich war da und habe dann gleich "Guten Tag" gesagt. Dann haben wir rasch einen Termin mit ihm und seinem Manager gemacht, 100 Kilometer vor Hamburg. Dann haben wir einen Vertrag gemacht, und ich hab' ihm empfohlen, noch ein Jahr Amateur zu bleiben.

SZ: Im zweiten Profijahr wurde er schon Zweiter bei der Tour hinter Bjarne Riis. Ein Doppelsieg für Ihr Team.

Godefroot: Ja, und das hat mich wirklich überrascht. Mit 22 kann man Talent haben, aber dass er eine Rundfahrt von drei Wochen so durchsteht, hätte ich nicht gedacht. Und es gab ja schon viele, von denen man sagte, sie könnten mal die Tour gewinnen, wie ein Charly Mottet oder ein Erik Breukink. Aber dann hatten sie einen schlechten Tag und verloren 20 Minuten. Deshalb war das für mich nach seiner ersten Tour beeindruckend, wie er da mit nur 22 Jahren durchs Hochgebirge gekommen ist.

SZ: Das muss Ihnen im Jahr nach der größten Enttäuschung Ihrer Karriere - in dem Ihr Rennstall nicht für die Tour nominiert worden war und fast vor dem Aus stand - vorgekommen sein wie ein Diamantenfund am Strand?

Godefroot: Das stimmt, das war großes Glück. 1995 durften wir ja dann nur in einem gemischten Team mit sechs Fahrern antreten. Das war natürlich eine peinliche Situation für mich, aber im Grunde muss ich noch heute Jean-Marie Leblanc (Tour-Chef; d.Red.) dankbar sein, dass er wenigstens diese sechs am Ende doch noch zugelassen hat.

SZ: Einer davon war Erik Zabel, der damit den Bestand des Teams sicherte.

Godefroot: Ich hatte ja mit Telekom immer nur einen Ein-Jahres-Vertrag, denn damals hatten sie noch nicht sehr viel Ahnung vom Radsport. Außerdem fanden sie, dass die Werbewirkung doch eher gering war. Die Siege von Erik haben das verändert, wie 1994 schon der Erfolg von Olaf Ludwig am Henninger Turm. Und als Jan Ullrich dann seine Erfolge hatte, haben sie sich für ein langfristiges Engagement entschieden.

SZ: Aber Verdienste zählen nicht ewig, denn Zabel ist diesmal nicht dabei. Sie hätten anders entschieden, heißt es.

Godefroot: Das möchte ich hier nicht sagen, aber ich habe meine Meinung sicherlich gesagt. Peinlich ist, dass ich Erik erst am Wochenende bei der Deutschen Meisterschaft gesprochen habe. Ich wollte eigentlich schon früher in aller Ruhe mit ihm reden und die Entscheidung erklären. Denn ich habe sehr viel Respekt vor ihm als Rennfahrer und Mensch. Ich habe ihm meine persönlichen Gedanken mitgeteilt und denke, wir hatten ein ganz gutes Gespräch.

SZ: In Ihrer Heimat Belgien wäre Zabel wohl ein Superstar - und eine solche Entscheidung unmöglich, oder?

Godefroot: Man muss das doch anders sehen. Wir haben in unserer Mannschaft Ullrich und Winokurow und Zabel - das sind im Grunde drei Fahrer, die das Recht hätten, eine eigene Mannschaft zur Verfügung zu haben. Nur: Sie sitzen alle in derselben Mannschaft. Wir mussten uns also für einen entscheiden.

SZ: Sie stammen aus einer echten Radsportnation - was für eine Radsportnation ist Deutschland?

Godefroot: Ich denke, unsere Mannschaft hat mit ihren Erfolgen ein breites Interesse geweckt. Ob Deutschland ein Radsportland ist, kann ich nicht beurteilen. Natürlich geht hier alles über Jan Ullrich, aber als Merckx so super war, ging in Belgien auch alles nur über ihn. Da war ich in der Rolle von Zabel.

SZ: Ullrichs Betreuer Rudy Pevenage gehört nicht mehr offiziell zum Team. Er ist Ihr Freund gewesen, bis er Sie vor drei Jahren mit Ullrich verließ. Eine traurige Entwicklung eigentlich, Sie sind doch früher sogar zusammen gefahren ...

Godefroot: Ja, bei "Ijsboerke". Nur, Freunde hat man eben ganz wenige, und Rudy war meine Vertrauensperson. Ich habe ihn engagiert und bin enttäuscht gewesen, als er plötzlich ging. Und wenn man jemanden von heute auf morgen verlässt, ist es noch weniger logisch, dass man am nächsten Tag sagt: "Hallo, ich komme wieder." Das geht nicht. Wenn wir uns mal sehen, sagen wir "Guten Tag". Nur: Es sind eben sehr enttäuschende Sachen passiert, weshalb ich heute sage: Nie mehr. Was jetzt mit ihm und der Mannschaft passiert, ist allerdings nicht mehr meine Sache. Ich habe immer darauf geachtet, dass die Mannschaft notfalls auch ohne mich funktionieren würde. Den Leuten, die denken, sie seien unersetzbar, sage ich immer: Die Friedhöfe sind voll mit unersetzbaren Leuten.

SZ: Trotzdem verbindet Sie ab Samstag noch einmal ein gemeinsames Ziel mit Pevenage. Wie sehen Sie das mutmaßliche Duell mit Armstrong?

Godefroot: Die Frage ist: Wie viel Steigerungsmöglichkeit haben beide noch. Voriges Jahr hatten wir die gleiche Situation, doch bei Jan hat es dann wegen seiner Erkältung nicht geklappt. Wie jetzt seine Steigerungsmöglichkeiten sind, das können nur Rudy Pevenage und sein italienischer Sportarzt Luigi Cecchini wissen, sie machen die Trainingsplanung. Ich habe mir natürlich bisher alles angesehen und denke, beide sind gut dabei. Jans Moral ist aber in den letzten fünf Jahren noch nie so positiv gewesen wie diesmal, er ist sehr engagiert. Ich denke: Er kann Armstrong schlagen. Die Frage ist nur: Wie gut ist unser Team?

SZ: Und?

Godefroot: Armstrongs Team ist jedenfalls wie immer gut, das ist klar. Wir haben einen guten Winokurow, und wir haben einen Klöden. Er war im Frühjahr nicht in Form, aber er hat uns im Vorjahr als Zweiter überrascht, und ich habe Vertrauen in ihn, dass er uns wieder überraschen kann. Die Frage ist: Kann man Armstrongs Stabilität brechen? Bei seinen sechs Siegen hat er doch stets im Zeitfahren attackiert, im Mannschaftszeitfahren -- doch im Gebirge hat er noch nie richtig am letzten Berg angegriffen. Allerdings war seine Mannschaft stets so stark, dass sie mit viel Tempo in den letzten Anstieg hineingefahren sind, und dann hat er auf ganz wenig Kilometern eine halbe oder eine ganze Minute Vorsprung genommen. Unser Ziel muss es also sein, ihn und seine Mannschaft drei Wochen zu beschäftigen, vielleicht schon am vorletzten Berg -- und das kann ein Winokurow. Man muss versuchen, Armstrong von seiner Mannschaft zu isolieren. Aber das ist natürlich alles Theorie.

SZ: Nächstes Jahr fehlt nicht nur Armstrong, sondern auch Sie: Was machen Sie während der Tour 2006?

Godefroot: Mit einem belgischen Bier die Tour im Fernsehen schauen.

SZ: Sie verabschieden sich komplett?

Godefroot: Na ja, der belgische Profiradsport gründet gerade eine Kommission, und sie haben mich angeschrieben, ob ich nicht mithelfen will. Aber ich höre jetzt nicht bei T-Mobile auf, um mich woanders voll zu engagieren. Ich habe ja noch mein Fahrradgeschäft, da gibt es viel Arbeit. Und die mache ich sehr gern.

© SZ vom 30.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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